Zweites Kapitel. Die Methodik der Staatslehre. 33
Ähnlich wie mit den rechtlichen verhält es sich aber mit
den staatlichen Verhältnissen, sowohl mit der historischen Er-
scheinung des Staates selbst als mit den einzelnen staatlichen
Gliedern und Funktionen. Jeder Staat, jedes Staatsorgan, jeder
Vorgang im Staate ist zunächst etwas völlig Individuelles. Isoliert
man aber die staatlichen Erscheinungen, so springen auch bei
ihnen allgemeine, in allen wiederkehrende Elemente ıns Auge,
die nach wissenschaftlicher Erkenntnis verlangen. In dem Bau
und in der Zusammensetzung der Staaten, in ihrem Wirkungs-
kreise finden wir vermöge gewisser, durch Isolierung des Objektes
zu erkennender identischer Elemente weitgehende Analogien. So
können denn die Staaten klassifiziert und ihre Institutionen ein-
heitlichen Begriffen untergeordnet und damit eine Wissenschaft
vom Staate geschaffen werden. Allein auch von dieser Wissen-
schaft darf nicht übersehen werden, daß kein Staat und keine
staatliche Institution bloß die Verwirklichung eines Abstraktums
oder die Wiederholung von etwas bereits Dagewesenem ist. Das
Frankreich Ludwigs XIV., das Preußen Friedrich Wilhelms Il.
und das Rußland Alexanders Ill. sind nicht etwa bloß drei ver-
schiedene Beispiele des Typus der absoluten Monarchie, sondern
auch drei von Grund aus verschiedene staatliche Bildungen.
Kraft der die Identitäten überwiegenden individualisierenden
Elemente, dıe um so schärfer hervortreten, je mehr man die
Gesamtheit der Bedingungen und Beziehungen des konkreten
Einzelstaatslebens ins Auge faßt, gibt es auch auf diesem Gebiete
niemals völlig gleiche, sondern nur gleichartige Erscheinungen:
die realen Bildungen gleichen sich nicht, sondern ähneln sich nur.
Hierdurch aber wird die Aufgabe der Wissenschaft in eigen-
tümlicher Weise umgrenzt. Es gibt nämlich eine Kenntnis des
Einzelstaates, die diesen in seiner Eigenart beschreibt, sei es nach
seiner historisch-politischen, sei es nach seiner juristischen Seite.
In einer solchen Disziplin ist alles konkret, positiv, individuell,
real. Der Einzelstaat ist aber nach keiner Richtung hin eine
isolierte Erscheinung. Die ganze Entwicklung der staatlichen
Institution überhaupt ist ihm vorangegangen; in mehr oder minder
bewußter Weise haben die Verhältnisse anderer — früherer und
gleichzeitiger — Staaten auf ihn eingewirkt; in den Fluß des
historischen Geschehens gestellt, wird er durch geschichtliche
Kräfte, die nicht auf seine Grenzen sich beschränken, fortwährend
umgebildet; in stetem Verkehr mit anderen Staaten stehend, muß
G.Jellinek, Allg. Staatslehre. 3. Aufl. 3