618 Drittes Buch. Allgemeine Staatsrechtslehre.
achtete man bis vor kurzem als auch formell von den actes ad-
ministratifs streng geschieden, indem man für jene eine rechtliche
Verantwortlichkeit nicht annahm!). Der Zusammenhang zwischen
dieser freien Tätigkeit und dem Gedanken der exekutiven Gewalt
war den Franzosen durch die Idee vermittelt, daß jene auf all-
gemeinen verfassungsmäßigen Vollmachten beruhe?), was innerlich
mit dem Gedankenkreise zusammenhängt, aus welchem die Vor-
stellung des pouvoir constituant entsprungen ist.
Aber auch innerhalb des inhaltlich vom Gesetze bestimmten
Gebietes der Verwaltung ist neben dem rechtlich gebundenen ein
Element freier Tätigkeit vorhanden, das nur von der allgemeinen
Norm pflichtmäßigen Handelns, das den Staatsorganen obliegt,
nicht aber von irgendwelchen spezialisierten Rechtssätzen be-
herrscht ist. Verwaltung ist niemals bloße Vollziehung, maschinen-
mäßige Anwendung allgemeiner Regeln auf den einzelnen Fall,
schon deshalb, weil sie nicht bloß obrigkeitliche, sondern auch
soziale Tätigkeit in sich schließt. Die Verwaltung besitzt daher
einen Raum freien Ermessens, der von Rechtsregeln begrenzt,
aber nicht inhaltlich bestimmt ist.
Die Verwaltung im materiellen Sinne enthält demnach zwei
in ihr zur Einheit verbundene Elemente, das der Regierung
und das der Vollziehung, jenes die Initiative und Anordnung,
„formes du Gouvernement du Roi“ (Art. 13) dem Könige die Exekutirv-
gewalt vor. Die Verfassung des zweiten Kaiserreiches kennt in erster
Linie nur das gouvernement und spricht nebenbei (Art. 31,57) vom
pouvoir executif. Das Verfassungsgesetz vom 25. Februar 1875 über die
Organisation der öffentlichen Gewalten definiert die Stellung des Präsi-
denten gar nicht, operiert aber (Art.6 und 7) ebenfalls mit den Be-
griffen des gouvernement und des pouvoir executif. Nur die Verfassung
der zweiten Republik teilt dem Präsidenten (Art. 43) ausdrücklich bloß die
exekutive Gewalt zu; doch spricht auch sie (Art. 68) von den actes du
gouvernement.
1) Vgl. über diese Akte Haurion Precis, 7. ed. i9il p. 75ff.;
vgl. auch die p. 75 N. i angeführte Literatur; ferner Tirard De la
responsabilit&e de la puissance publique 1906 p.162ff., 259; J&öze im
Jahrb.d.ö.R.V 1911 S.634ff., VI 1912 S.397ff. Es sind Akte, gegen
welche der ‚recours pour exc&s de pouvoir“ nicht stattfindet. In neuester
Zeit ist allerdings der Begriff der actes de gouvernement heftig an-
gegriffen worden; Berth&älemy, a.a.O. liv.I chap. II $3 IV, verwirft
ihn mit Michoud u.a. gänzlich. Das deutsche Seitenstück zu ihnen
bildet 85 Ziff.2 des Reichsges. über die Haftpflicht des Reichs für seine
Beamten v. 22.5.1910.
2) Vgl. O.Mayer Theorie des franz. Verwaltungsrechts S. 8.