620 ‚Drittes Buch. Allgemeine Staatsrechtslehre.
stimmtes Element verborgen, daher ein Rechtssatz erst durch
die Rechtsprechung voll entwickelt und im ganzen, Umfange seiner
Bedeutung erkannt zu werden vermag. Trägt der Richter derart
zur Entwicklung des Rechtes selbst bei, so ist überdies dem
modernen Richter ein gesetzlich umschriebener Kreis freien
Ermessens zugewiesen worden, der inhaltlich dem bei der Ver-
waltung beobachteten gleichartig ist, also auch nur gebunden von
jener allgemeinen Norm pflichtmäßigen Handelns. Hingegen fehlt
der richterlichen Tätigkeit das Moment der Initiative, welches
der Regierung zu eigen ist; der Richter kann immer nur auf
einen von außen kommenden Anstoß zur Rechtsprechung schreiten,
Das Wesen der freien Tätigkeit kommt juristisch auch da-
durch zum Ausdruck, daß die wichtigsten Sätze über die staat-
lichen Zuständigkeiten nur in Form von Machtbefugnissen, nicht
von Pflichten definiert werden können. Das größte Maß freier
Tätigkeit ist jenen unmittelbaren Organen zugemessen, bei denen
die ganze staatliche Initiative ruht. Die Verfassungen sprechen
daher von Rechten des Monarchen, der Kammern, des republika-
nischen Präsidenten, des Gesamtvolks usw. In all diesen
Rechten liegen Pflichten verborgen, die aber von niemand geltend
gemacht werden können als von dem Verantwortungsgefühle des
Verpflichteten selbst!). Hier ist einer der Punkte, in denen sich
Sittlichkeit und Recht berühren und es klar wird, daß das ganze
Recht haltlos in der Luft schwebt, wenn es sich nicht auf
den festen Grund ethischer Überzeugung der Machthaber stützen
kann.
Das Komplement der freien Tätigkeit ist die rechtlich ge-
bundene. Am geringsten ist seine Bedeutung für die Rechtssetzung
selbst, allein auch bei ihr nicht gänzlich ausgeschlossen, wie so
häufig behauptet wurde. Völkerrechtliche Normen schränken die
staatliche, verfassungsrechtliche die einfache, Bundes- die Staaten-
gesetzgebung ein. Daß diese Schranken in der Regel übertreten
werden können, ohne den also vorgenommenen legislatorischen
Akt rechtlich unwirksam zu machen, ändert daran nichts, zumal
auch innerhalb der rechtlich gebundenen Verwaltung und Recht-
sprechung normwidrige Verfügungen und Entscheidungen Rechts-
kraft gewinnen können. Immer ist aber in solchen Fällen die
1) Auch ein republikanisches Staatshaupt kann rechtlich nur wegen
Verletzung ausdrücklich normierter Pflichten, nicht wegen Gebrauchs
von verfassungsmäßigen Rechten verantwortlich gemacht werden.