644 Drittes Buch. Allgemeine Staatsrechtslehre.
Die Gemeinden haben gleich dem Staate ein Gebiet, An-
gehörige und eine selbständige Gewalt. Sie unterscheiden sich
aber vom Staate dadurch, daß diese Gewalt niemals ursprüngliches,
vom Staate nicht verliehenes Imperium besitzt. Alles Imperium,
das der Gemeinde zusteht, ist abgeleitet, auch die ihnen zu eigenem
Rechte verliehenen Herrschaftsrechte. Eigenes Herrschaftsrecht
der Gemeinde ist niemals originäres Recht. Ihr Gebiet ist zu-
gleich Staatsgebiet, ihre Angehörigen sind Staatsangehörige, ihre
Gewalt ıst der des Staates unterworfen.
Diese Gebietskörperschaften ruhen auf einer vom Staate nicht
geschaffenen sozialen Basis, den nachbarlichen Gemeininteressen.
Sie haben sich daher vielfach unabhängig vom Staate gebildet,
sie haben den Wechsel der Staaten überdauert, und in diesem
Sınne ist es richtig, wenn behauptet wird, die Gemeinde sei
älter als der Staat. Ihre Ausstattung mit Herrschaftsrecht ist
jedoch ursprünglich vom Staate erfolgt. Erst als die Erinnerung
an den Ursprung der Stadtfreiheiten und Privilegien erlosch,
konnte sich die Vorstellung eines ursprünglichen Herrschafts-
rechtes der Gemeinde bilden.
Französische Reformideen vor der Revolution und die Ver-
suche der Konstituante zur Reorganisation des französischen
Staates haben die Vorstellung eines natürlichen Rechtes der Ge-
meinde, eines pouvoir municipal, entstehen lassen!). So wurde der
natürliche von'dem aufgetragenen Wirkungskreis der Gemeinde
unterschieden. Der erstere, namentlich seitdem die Theorie von
der Munizipalgewalt in die belgische Verfassungsurkunde Ein-
gang gefunden hatte, spielt in den Lehren und Forderungen des
süddeutschen Liberalismus der Epoche 1830-1848 eine bedeu-
tende Rolle. Sein Einfluß zeitigt 1848/49 die Festsetzung von
Grundrechten der Gemeinden, die wiederum von Bedeutung für
die spätere Theorie und Gesetzgebung war.
Diese naturrechtliche Theorie kann heute als überwunden
betrachtet werden. Selbst diejenigen, welche, wie Gierke und
1) System S.277ff.; Hatschek Selbstverwaltung S.34ff. Über
den Einfluß dieser Ideen auf die Steinsche Städteordnung von 1808
vgl. M.Lehmann a.a.0.Il S.447ff.; E.v.Meier Französische Ein-
flüsse II 1908 S.314ff.; O.Gierke Die Steinsche Städteordnung 1909
S.6ff. Mit der Bedeutung dieses großen Reformwerkes sowie der eigen-
artigen Gestaltung der deutschen Gemeindeverhältnisse wird sich der
zweite Teil dieses Werkes zu beschäftigen haben. Vgl. Bes. Staatslchre
(Ausg. Schriften u. Reden II 1911) S. 310 ff.