650 Drittes Buch. Allgemeine Staatsrechtslehre.
genden soll zunächst ein Überblick über die wichtigsten hierher-
gehörigen Fälle gegeben werden.
1. Es gibt Staaten, deren Gebiet und Volk staatsrechtlich
keine Einheit bilden. Das ist der Fall einmal während des
Schwebezustandes, der nach der Abtretung eines Gebietes oder
der Eroberung eines Staates bis zur Einverleibung in das Ge-
biet des Eroberers eintritt. Solche Gebiete gehören nicht mehr
dem früheren Staate oder haben ihren staatlichen Charakter ver-
loren, sind aber staatsrechtlich noch nicht Teile des sie erwer-
benden Staates. Vielmehr ist dieser durch den völkerrechtlichen
Akt der Erwerbung nunmehr befugt, jene Gebiete sich einzuver-
leiben; es bedarf jedoch stets eines besonderen staatsrechtlichen
Aktes, um die Einverleibung durchzuführen, die also niemals
ipso iure stattfindet. Beide Akte: Gebietserwerb und Einverlei-
bung, können zeitlich wahrnehmbar auseinanderfallen. So wurden
Schleswig-Holstein im Wiener Frieden vom 30. Oktober 1864
von Dänemark an Preußen und Österreich abgetreten, ihre Ein-
verleibung ın die preußische Monarchie wurde aber erst auf
Grund des preußischen Gesetzes vom 24. Dezember 1866 durch
königliches Patent vom 12. Januar 1867 vollzogen. Elsaß-Loth-
ringen war mit dem Tage der Ratıfikation des Versailler Prä-
liminarfriedens (2. März 1871) von Frankreich dem Deutschen
Reiche zediert, allein erst durch das Reichsgesetz vom 9. Juni
1871 wurden Elsaß-Lothringen für einen Bestandteil des Deutschen
Reiches und die Einwohner von Elsaß-Lothringen für Angehörige
des Deutschen Reiches erklärt. In der Zwischenzeit waren hier
Schwebezustände vorhanden, in denen diese Gebiete, trotzdem
sie nicht Staaten waren, dennoch keinem anderen Staate ein-
verleibt waren. Solche Schwebezustände können aber auch von
längerer Dauer sein. Dies bewies die Stellung Bosniens und der
Herzegowina in den Jahren 1878 bis 1908. Beides waren türkische
Provinzen unter österreichisch-ungarischer Verwaltung; sie waren
aber weder österreichisches noch ungarisches Staatsgebiet; ihre
Angehörigen hatten weder die österreichische noch die ungarische
Staatsangehörigkeit. Anderseits hatte aber trotz des Vorbehaltes
der Souveränetät die Herrschaft der Türkei über beide Provinzen
kraft der Übertragung der ganzen Regierungsgewalt an Österreich-
Ungarn keinen wie immer gearteten staatsrechtlichen Inhalt, so
daß auch dem türkischen Reiche gegenüber diese Provinzen als
staatsrechtlich selbständige Territorien mit eigenen Angehörigen