Full text: Allgemeine Staatslehre

40 Erstes Buch. "Einleitende Untersuchungen. 
hebung der geineinsamen Merkmale, welche die große Mehrzahl 
der Einzelfälle darbietet?). In diesem Punkte steht es übrigens 
mit den sozialen Erscheinungen nicht anders wie mit den natür- 
lichen. Die einzelnen Individuen einer Tierspezies weisen bei 
aller Übereinstimmung in wesentlichen Merkmalen doch wieder 
größere oder geringere Abweichungen in anderen auf, bis zu den 
Mißbildungen, die sich als völlige Entartungen des Typus dar- 
stellen. Die Pathologie stellt bestimmte Krankheitstypen auf; 
nichtsdestoweniger verlaufen viele Fälle atypisch, und es werden 
die aufgestellten Typen auf Grund neuer Beobachtungen fort- 
während korrigiert. Ohne Kenntnis derartiger pathologischer 
empirischer Typen aber gäbe es kein ärztliches Wissen und 
Können. Hält man sich diese möglichen Abweichungen vor Augen, 
so bleibt man auch vor jener nicht 'selten geübten pedantischen 
Kleinigkeitskrämerei bewahrt, die eine staatsrechtliche oder poli- 
tische Synthese schon dann widerlegt zu haben glaubt, wenn sie 
nachweist, daß sie auf den einen oder anderen untergeordneten 
Fall nicht passe?). Anderseits bewahrt die Erkenntnis, daß es sich 
um empirische, nicht um Idealtypen handelt, vor jenem praktisch 
  
1) Insofern ist auch der empirische Typus ein Ideal, allerdings ein 
Ideal des Seins, nicht des Seinsollenden, ein logisches, kein ethisches 
Ideal, und in diesem Sinne ist der Ausführung von Max Weber, Die 
„Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, 
Archiv £. Sozialwissenschaft u. Sozialpolitik XIX S. 64 ff.,, zuzustimmen. 
2) Auf die Typen in ihrem Verhältnisse zum Einzelfall paßt das 
Wort des Julianus L. 10 D. de legibus 1, 3: Neque leges, neque senatus 
consulta ita scribi possunt, ut omnes casus, qui quandoque inciderint, 
comprehendantur, sed sufficit ea, quae plerumque accidunt, contineri. 
Es liegt überhaupt im Wesen begrifflicher Erkenntnis, daß sie individuelle 
Abweichungen zugestehen muß, die sie nicht zu erfassen vermag. Mit 
völliger Sicherheit kann nur das einmalige Geschehen (und auch das 
nicht in erschöpfender Weise) festgestellt werden, alles Abstrahieren aus 
den Fakten gibt uns Bilder, die sich nie völlig mit der Wirklichkeit 
decken. Alle Begriffsbildung ist Versuch, die unermeßliche Realıtät so 
viel als möglich zu erfassen, und daher wird in allen mit Begriffen 
rechnenden Wissenschaften unausgesetzter Streit herrschen, ob die Grenze 
solcher Möglichkeit erreicht ist. Je weiter aber die Begriffe werden, 
desto mehr Einzelheiten müssen vernachlässigt werden. Wer von Berges- 
höhen die Landschaft überschaut, der sieht zwar in der Ferne, was er 
vom Tal aus nicht erblicken konnte, aber die Grashalme der \Viesen sind 
ihm entschwunden. Der Grashalm ist gewiß emsigster Forschung wert, 
aber um ihn liegt eine unendliche Welt, in der wir uns orientieren 
müssen, die, mit dem Mikroskop betrachtet, ganz unsichtbar wird.
	        
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