Zwanzigstes Kapitel. Die Staatsformen. 03
Kompromiß, kann jedoch niemals in den Buchstaben des Gesetzes
aufgenommen werden, weil dadurch die monarchische Staatsform
völlig zerstört wäre; nicht der König, sondern das Parlament
wäre dann rechtlich der Herrscher, der Monarch hingegen nichts
als Exekutor parlamentarischer Beschlüsse, was den Intentionen
selbst der, wenn auch den König noch so weit einschränkenden,
aber immerhin die Monarchie bejahenden Verfassungen wider-
spräche. Die in England zuerst ausgebildete Monarchie mit
parlamentarischer Regierung!) ist auch in eine Zahl kontinentaler
Staaten eingedrungen, nirgends jedoch für eine verfassungsmäßige
Institution erklärt worden?), was nicht nur für die staatsrecht-
liche Theorie, sondern auch für die praktische Politik von 'großer
Bedeutung ist. Es ist dadurch nämlich eine viel größere Schmieg-
samkeit der Verfassungen an wechselnde politische Verhältnisse
möglich, die in schwierigen staatlichen, namentlich parlamen-
tarischen Krisen durch die möglicherweise zu politischer Be-
deutung gelangende formalrechtliche Selbständigkeit des König-
tums hohen Wert erhalten kann. Nicht einmal in der heutigen
—
1) Gründliche, streng wissenschaftliche Untersuchung der recht:-
lichen Natur der heutigen Parlamentsherrschaft in England hatte bisher
nicht stattgefunden. Während die altoffizielle Theorie, wie sie noch
bei Blackstone zum Ausdruck kommt, das Kabinett als (bis auf den
heutigen Tag!) ungesetzliche Institution gänzlich ignoriert, wird in der
Regel die parlamentarische Regierung in ihrer heutigen Ausbildung als
Rechtsinstitut betrachtet. Einen Mittelweg hat, von Freeman, The
Growth of the English Constitution 1872 p. 109ff., angeregt, Dicey,
a.a.0. p.413ff,, eingeschlagen, indem er conventions of the Constitution
von dem allein Rechtscharakter besitzenden und für die Kognition der
Gerichte geeigneten law of Constitution unterscheidet. Allein für unsere,
mit schärferen Begriffen als die englische arbeitende Wissenschaft
bleibt noch immer die Frage offen, wie weit diese konstitutionelle oder
politische Ethik, wie Dicey sie nennt, gewohnheitsrechtliche oder bloß
politische Normen enthält. So z.B. zählt Dicey (p. 422£.) den Satz, daß
das Parlament jährlich einzuberufen sei, trotzdem ihm weitgehende
Garantien (Notwendigkeit der jährlichen Bewilligung der mutiny act und
des Budgets) zur Seite stehen, nicht zu den Rechts-, sondern zu den
Konventionalregeln, weil er weder im common noch im statute law
begründet ist. Nunmehr hat Hatschek, Engl. Staatsr. I S. 542£f.,
in sehr eingehender Weise den Nachweis unternommen, daß ein Teil
dieser angeblichen Konventionalregeln tatsächlich Rechtssätze sind. Vgl.
auch Radnitzky im Arch. f.öff.R. XXI 197 S. 393£f.
2) Daß der König verfassungsmäßig die freie Wahl der Minister
außerhalb der Kammern habe, hebt für Belgien ausdrücklich hervor
Vauthier, S.51; Errera StR. d. Königreichs Belgien 1909 S. 58,