Zweites Kapitel. Die Methodik der Staatslehre. 45
gehen, zu lehren habe. Damit.scheiden sich aber die historischen
Tatsachen für die theoretischen und praktischen Sozialwissen-
schaften in wertvolle und wertlose, eine Scheidung, die natür-
lich nur relativ ıst und für jedes Wissensgebiet andere Resultate
ergibt. Für die Staatslehre, sofern sie den heutigen Staat erklären
will, ergibt sich aus dieser Erkenntnis folgendes:
Institutionen ändern sich, nicht jede Änderung aber ist eine
Eniwicklung!). Entwicklung ist nur jene Änderung, die vom
Einfachen zum Komplizierten führt. \Wachsende Größe, Zeit-
dauer, Intensität einer. Erscheinung, steigende. Mannigfaltigkeit,
Leistungsfähigkeit und Zweckmäßigkeit einer Institution nennt
man deren Entwicklung. Rechtliche und staatliche Institutionen
ändern sich häufig bloß, ohne sich zu entwickeln, ja sogar,
indem sie sich zurückbilden. Blöße Änderung liegt vor, wenn
eine Einrichtung im Laufe der Geschichte: ihren Zwveck wechselt.
Denn Entwicklung sozialer Institute fordert Beibehaltung der
früheren neben neu hinzutretenden Zwecken. Wo die Zwecke aber
bloß wechseln, da ist nur ein rein äußerlicher Zusammenhang
zwischen mehreren zeitlich auseinanderliegenden Erscheinungen ?)
vorhanden. Das mögen einzelne Beispiele lehren.
Die heutige Urteilsjury ist aus der Beweisjury des nor-
männischen Rechtes hervorgegangen. Diese ist ursprünglich Be-
weiszeuge, nicht Beweisrichter. Im 16. Jahrhundert bildete sıch
in England diese Beweisjurv zur Urteilsjury um. Man beginnt
nämlich vor der Jury zu beweisen, nachdem deren eigene Kenntnis
von dem Falle sıch als ungenügend herausstellt. Infolgedessen
urteilt nunmehr die Jury nicht auf Grund ıhres-Wissens, sondern
auf Grund des zu ihrer Wissenschaft Gebrachten. Die Institution
der Urteilsjury wird sodann vom französischen Rechte rezipiert
und dabei wiederum umgebildet — nicht fortentwickelt —, indem
u
!) Das Wort sEntwicklung‘“ gehört zu den vieldeutigsten unserer
wissenschaftlichen Terminologie; vgl. Rickert Die Grenzen naturw.
Begriffsbild., 2. Aufl.. 1913 S.-389.ff. Daher muß jede Wissenschaft sich
zuvöörderst über ihren Entwicklungsbegriff:klar werden. Für: die Sozial-
wissenschaften ist dieser nur als Wertbegriff in dem im Text gegebenen
Sinne brauchbar.
2) Gute Ausführungen über die Zweckmetamorphosen der Sitten
bei Wundt Ethik, 4. Aufl. 1912 I.S. 118f£., über diejenigen des Rechts
bei L.Brütt Die Kunst der Rechtsanwendung 1907 S.62ff. Verkannt
ist das Wesen der Rechtsentwicklung von Kohler a.a.0. S.23, der
sie der konstanten Änderung des Rechtes gleichsetzt.