Zwanzigstes Kapitel. Die Staatsformen. 727
gemacht!). Anders hingegen sind die Verhältnisse in Frank-
reich, wo in der dritten Republik auf Grund der Lehren von
B. Constant?), Chateaubriand, Thiers und Pre&vost-
Paradol?) das parlamentarische Regierungssystem durchgeführt
und dem Staatschef nur die Stelle eines über den staatlichen
Machtfaktoren stehenden, dafür aber auch eines realen Anteils an
der Leitung der Geschäfte beraubten neutralen Elementes an-
gewiesen wurde. In Frankreich sind die Kammern das höhere
Organ gegenüber dem Präsidenten, und zwar politisch schon
1) Ganz eigentümlich geartet ist die Stellung des obersten Re-
gierungsorganes in der Schweiz. Von einer strikten Durchführung des
Prinzipes der Teilung der Gewalten ist keine Rede, vielmehr herrscht
dort, wie Dubs (Das öffentliche Recht der Schweizerischen Eidgenossen-
schaft II 1878 S.71) es treffend ausdrückt, „organische Gewalten-
konfusion“. Die Bundesversammlung ist in manchen Stücken dem
Bundesrat übergeordnet, sie wählt und kontrolliert ihn. Aber nichts-
destoweniger ist er die ‚oberste leitende und vollziehende Behörde der
Eidgenossenschaft“ (Bundesverfassung Art. 95) und steht der Bundes-
versammlung auf breitem Gebiete unabhängig gegenüber. Seine Mit-
glieder, die in der Regel immer wiedergewählt werden, bestehen oft
aus Angehörigen entgegengesetzter Parteien. Solches Verhältnis ist
allerdings nur in einem kleinen und neutralen Staate durchzuführen.
Ganz unrichtig aber ist es deshalb, in den Bundesratsmitgliedern ab-
hängige Vollzugsorgane der Bundesversammlung zu sehen, wie es
Rehm, Staatslehre S.287 N.1, tut. Schon der wichtige Umstand,
daß dem Bundesrate das Recht der Gesetzesinitiative zusteht, spricht
gegen solche Annahme. Der Ausdruck ‚Beamte‘, den die Bundes-
verfassung für die Mitglieder des Bundesrates gebraucht, beweist gar
nichts, da Art.117 der Verfassung, der die Beamten der Eidgenossen-
schaft für verantwortlich erklärt, auch auf die Mitglieder der gesetz-
gebenden Räte Anwendung findet. In der Schweiz heißen nämlich
auch die Kammern Behörden und deren Mitglieder Beamte. Vgl. Bundes-
gesetz über die Verantwortlichkeit der eidgenössischen Behörden und
Beamten vom 9. Dezember 1850; Wolf Die Schweizerische Bundes-
gesetzgebung I, 2. Aufl. 1905 S.28ff.; Bundesgesetz über das Bundes-
strafrecht vom 4. Hornung 1853 Art.53; Wolf I S. 570.
2) Vgl. hierzu H.L.Rudloff Die Entstehung der Theorie der
parlamentar. Regierung in Frankreich (Z. £. d. ges. Staatswissenschaft
62. Bd. 1906 S.597ff.); Dolmatowski Der Parlamentarismus in der
Lehre Benjamin Constants (Z.f.d. ges. Staatswissenschaft 63. Bd. 1907
S. 581 £f.).
3) Namentlich die Ausführungen von Prevost-Paradol, La
France nouvelle (zuerst 1868 erschienen) 13. &d. 1884 ch. V und VI, sind
von bestimmendem Einfluß auf die heutige Gestaltung der französischen
Präsidentschaft geworden.