Drittes Kapitel. Die Geschichte der Staatslehre. 61
aus betrachtet werden. Hatte das Naturrecht den Staat aus-
schließlich als eine Rechtsanstalt aufgefaßt und ihn ganz auf
juristischem Grunde fundiert, so tritt nun die Mannigfaltigkeit
des Wesens des Staates ın das wissenschaftliche Bewußtsein. Das
zeigt sich auch darin, daß die Erkenntnis sich Bahn bricht, die
Grundwissenschaft vom Staate sci nicht nur die Rechtslehre des
Staates, sondern auch eine selbständige Disziplin, welche die
über das Recht hinaus und dem Rechte vorangehende Natur des
Staates, zu deren Feststellung die Hilfsmittel der juristischen
Forschung nicht ausreichen, zu ergründen strebt. So bildet sich
die Forderung einer allgemeinen Staatslehre, die den Staat nicht
nur in seiner Eigenschaft als Rechtssubjekt, sondern in der
Totalität seiner Merkmale zum Gegenstand hat. Der Terminus
Staatslehre als Übersetzung des Wortes Politik findet sich schon
in der Mitte des 18. Jahrhunderts!). Die Erkenntnis ihres Unter-
schiedes von dem allgemeinen Staatsrecht trıtt aber erstam Ende
des 18. Jahrhunderts auf?). In der ersten Hälfte des 19. Jahr-
hunderts wird die Staatslehre entweder als eine selbständige
Disziplin neben Staatsrecht und Politik behandelt, als Naturlehre
des Staates?), oder als die Gesamtheit der theoretischen Staats-
1) Über diese Literatur vgl. v.Mohl I S.265—334. Zahlreiche
literarische Notizen bei v.Aretin Staatsrecht der konstitutionellen
Monarchie I 1824, für die spätere Zeit ein umfassender bibliographischer
Nachweis bei Held Staat und Gesellschaft III 1865 S. 91—100.
2) Zuerst war es Schlözer, Allgemeines Staatsrecht 1793 S.9,
der die Staatswissenschaft in Staatskunde und Staatslehre schied. Unter
der letzteren, die er auch als cursus politicus philosophicus oder scientia
imperi — im Gegensatz zu der dem Einzelstaat zugewendeten notitia
imperiorum — bezeichnet, versteht er: „die menschliche Einrichtung,
Staat genannt, nach ihrem Zweck und Wesen überhaupt“. Sie zerfällt
ihm in Metapolitik (die als Vorläufer der heutigen Soziallehre vom
Staate zu bezeichnen ist), Staatsrecht, Staatsverfassungslehre und Politik
im engeren Sinne.
3) Eine Physiologie der Staaten, die den realen Staatenbildungs-
prozeB erkennen läßt, hat zuerst Schleiermacher, Die Lehre vom
Staat, herausgeg. von Chr. A. Brandis S.1ff.,, gefordert. Sodann hat
Rotteck (vgl. die folgende Note) die Staatsphysik als einen Teil der
Staatslehre behandelt, hierauf Heinrich Leo, Studien und Skizzen zu
einer Naturlehre des Staates I 1893, die Grundzüge einer Physiologie
der Staaten entworfen und K.S.Zachariae, Vierzig Bücher vom
Staate 2. Aufl. 2,Bd. 1839, eine allgemeine politische Naturlehre der
Staatsverfassungslehre vorangestell. Auch in neuester Zeit ist der
Gedanke einer Naturlehre des Staates von Anhängern der organischen