Object: Europäischer Geschichtskalender. Zweiundzwanzigster Jahrgang. 1881. (22)

516 Kebersicht der politischen Enkwichlung des Jahres 1881. 
und auch im Stande wären, das ihnen angeblich zugesprochene Ge- 
biet nöthigenfalls aus eigener Kraft mit Gewalt sich anzueignen. 
Sie rüsteten zu diesem Ende hin mit aller Macht. Vor dem Kriege 
hatte die kleine Armee nur aus 12,000 Mann bestanden und selbst diese 
hätte in keiner Weise als eine Kerntruppe bezeichnet werden können; 
jetzt sollte sie in aller Eile auf 50, 70, ja zuletzt sogar auf 100,000 
Mann gebracht werden; von allen Seiten wurde Kriegsmaterial mit 
großen Kosten herbeigeschleppt und das Land stürzte sich dafür in 
eine verhältnißmäßig gewaltige Schuldenlast. Die Pforte blieb in- 
deß ganz ruhig und ließ sich durch all den Lärm nicht aus dem 
Gleichgewicht bringen, überzeugt, daß sie allein mit den Griechen 
leicht fertig werden würde und daß sich die Mächte kaum darüber 
einigen würden, den Griechen in vollem Umfange ihrer Begehren 
gerecht zu werden, noch weniger aber darüber, die Execution in ihre 
eigene Hand zu nehmen, um vielleicht das vorjährige Schaufpiel 
vor Dulcigno zu erneuern. So standen die Dinge eine Zeit lang 
in immerhin gefährlicher Schwebe, da es dem Interesse des Friedens 
durchaus nicht entsprach, Zwang weder gegen die Pforte noch gegen 
Griechenland auszuüben. Glücklicher Weise war inzwischen die erste 
Hitze Gladstone's durch die Erfahrungen bei Dulcigno etwas ab- 
gekühlt und wurden die Interessen der englischen Regierung durch 
die wachsenden Schwierigkeiten der irischen Frage mehr und mehr 
und näher in Anspruch genommen, so daß auch England nach- 
gerade geneigt war, nach einer Vermittlung zu suchen oder zu einer 
solchen die Hand zu bieten. Der mit einer außerordentlichen Mis- 
sion der englischen Regierung bei der Pforte betraute Hr. Goschen 
verständigte sich auf seiner Durchreise dahin in Berlin Ende Februar 
persönlich mit dem deutschen Reichskanzler über eine solche. Damit 
war die Hauptschwierigkeit für eine nach allen Seiten angemessene 
Lösung der Frage, eine Spaltung unter den Mächten über dieselbe, 
aus dem Wege geräumt, da auch Frankreich trotz alles Wohlwollens 
für die Griechen nicht geneigt war, sich von denselben seine Hand 
moralisch geradezu zwingen zu lassen. In Konstantinopel nahm 
jetzt der deutsche Botschafter die Frage in die Hand und die Mächte 
waren bald darüber einig, daß den Griechen wohl Thessalien nebst 
dem südlichen Theil von Epirus, nicht aber auch der nördliche mit 
der Stadt Jannina zugetheilt werden solle. Dazu durfte man 
hoffen die Pforte im Frieden bewegen zu können, während von 
Jannina keine Rede sein konnte, ohne gegen jene mit Gewalt vor-
	        
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