Full text: Deutsches Kolonialblatt. VII. Jahrgang, 1896. (7)

wollenindustrie, namentlich in England, seit der Er- 
findung moderner Maschinen und über den Einfluß 
der verbesserten modernen Fabrikationsweise auf den 
Handel zwischen England und Ostindien mit Baum- 
wolle und Baumwollenfabrikaten. 
Seinen Angaben über die interessante und wechsel- 
volle Geschichte dieser Handelsbeziehungen entnehmen 
wir Folgendes: 
Der Ursprung der Baumwollenindustrie ist in 
Ostindien. Viele Jahrhunderte lang deckte Indien 
den Bedarf der vorderasiatischen Länder und der 
östlichen Theile Afrikas an baumwollenen Kleidungs- 
stücken. Auch nach England entwickelte sich eine 
starke Ausfuhr der verschiedensten Baumwollenfabrikate, 
die besonders im 17. Jahrhundert durch die Thätig- 
keit der englisch= und holländisch-ostindischen Handels- 
gesellschaften eine große Ausdehnung gewann. Im 
Jahre 1621 berechnete einer der Direktoren der 
East India Company, Mr. Main, die jährliche 
Einfuhr indischer Kalikostoffe nach England auf 
50 000 Stück. Der Werth der Einfuhr indischer 
Baumwollenfabrikate steigerte sich im Jahre 1674/75 
auf 160 000 Pfd. Sterl. Die indischen Baumwollen- 
stoffe kamen in dieser Zeit derart in England in 
Aufnahme, daß dort bald darauf eine starke Gegenbewe- 
gung gegen ihre Einfuhr entstand, da durch sie die 
heimische englische Wollindustrie ruinirt zu werden 
drohte. Man suchte deshalb beim Beginn des 
18. Jahrhunderts sowohl in England wie in anderen 
europäischen Ländern die Einfuhr indischer Baum- 
wollenstoffe auf dem Wege der Gesetzgebung mög- 
lichst einzuschränken sowohl durch hohe Einfuhrzölle 
als durch gänzliche Verbote der Einfuhr unter An- 
drohung von Strafen. Im 17. Jahrhundert erklärte 
sogar das britische Parlament, der ostindische Handel 
schädige den nationalen Wohlstand, weil er dem 
Volke seine Reichthümer entziehe. 
Seitdem trat eine allmähliche, aber völlige Um- 
kehrung des Verhältnisses zwischen England und Ost- 
indien bezüglich des Baumwollenhandels ein. Wäh- 
rend die Baumwollenfabrikation in Indien fast ohne 
jede Verbesserung auf der seit uralter Zeit über- 
lieferten primitiven Herstellungsweise stehen geblieben 
war, entwickelte sich im Laufe des 18. Jahrhunderts 
in England eine eigene Baumwollenfabrikation, welche 
schließlich infolge der Amwendung moderner Maschinen 
einen solchen Umfang annahm, daß umgekehrt Indien, 
dessen Fabrikation dieser Konkurrenz unterlag, ein 
Hauptabsatzgebiet für die englischen Baumwollen= 
fabrikate wurde. 
Einige Daten mögen zur Veranschaulichung dieser 
Umwandlung dienen. In der ersten Hälfte des 
18. Jahrhunderts war Rohbaumwolle als Handels- 
artikel in England kaum bekannt. Die erste englische 
Baumwollenfabrik, welche im Jahre 1771 erbaut 
wurde, beschäftigte nur zehn Mädchen; die Maschinen 
wurden durch zwei Esel in Bewegung gesetzt. Im 
Jahre 1790 wurde die Wattsche Dampfmaschine als 
226 
  
Triebkraft eingeführt. Noch im Jahre 1800 konnten 
auf einem Webestuhl wöchentlich nicht mehr als vier 
Stück Zeug hergestellt werden. 1813 betrug die 
Zahl der mit Dampfkraft getriebenen Webestühle 
2400; sie wuchs bis zum Jahre 1833 auf 100 000 
bis 1860 auf 400 000. 
Im Jahre 1861 gab es in England mehr als 
2470 Baumwollenfabriken, 1885 nach zuverlässigen 
Angaben 2635. Die Zahl der Spindeln stieg von 
32 Millionen im Jahre 1863 auf 41 Millionen 
im Jahre 1885; in demselben Jahre betrug die 
Gesammtzahl der durch die Baumwollenindustrie 
direkt beschäftigten Personen mehr als eine halbe 
Million. 
Was den Gesammtexport von Baumwollenfabri- 
katen aus England anbetrifft, so betrug derselbe im 
Jahre 1861 im Ganzen 52 Millionen Pfd. Sterl.; 
er wuchs auf 67 Millionen Pfd. Sterl. im Jahre 1885 
und auf 71 Millionen im Jahre 1887; es ist dies un- 
gefähr ⅜/ des jährlichen Gesammtexports Englands. 
Nach Indien exportirte England schon im Jahre 
1862 Baumwollenfabrikate im Werthe von ungefähr 
9 Millionen Pfd. Sterl., 1866 im Werthe von 
ungefähr 13½ Millionen, im Jahre 1886/87 da- 
gegen von ungefähr 29 Millionen Pfd. Sterl. 
Mit der fortschreitenden Entwickelung der eng- 
lischen Baumwollenindustrie stieg gleichzeitig die 
Ausfuhr von Rohbaumwolle aus Indien nach Eng- 
land, und zwar von 5 Millionen Pfd. im Jahre 
1781 auf 1000 Millionen Pfd. im Jahre 1881. 
Mit der indischen Baumwolle trat die amerikanische 
in Wettbewerb. Noch im Jahre 1818 lieferte Indien 
eine größere Quantität Baumwolle nach England als 
Amerika, und zwar zu einem billigeren Preise als 
letzteres. Dann aber verdrängte die amerikanische 
Baumwolle die indische vom Markte infolge der 
Kultur einer längeren, stärkeren Faser und der An- 
wendung verbesserter Reinigungsmaschinen in Amerika. 
Auch die größere Sorgfalt bei der Ernte, billiger 
Transport bis zur Küste und niedrige Frachten be- 
günstigten die amerikanische Baumwolle. Außerdem 
hatte der indische Pflanzer unter den ihm nach- 
theiligen Maßnahmen der Regierung des eigenen 
Landes zu leiden, die eine möglichst hohe Steuer 
auf die Baumwollenkulturen legte und nichts für 
deren Förderung that. Die Folge war, daß der 
Export indischer Baumwolle nach England im Jahre 
1822 auf 2 Millionen Pfd. sank, während der 
Export aus den Vereinigten Staaten auf 100 Mil- 
lionen Pfd. Sterl. stieg. 
Zu gleicher Zeit war auch in Indien die ein- 
heimische Handweberei, durch die die werthvollen 
Musseline u. s. w. hergestellt wurden, nach langem 
Kampfe dem Mitbewerb der englischen Dampf- 
webereien endlich unterlegen. Denn die Einfuhr 
der indischen Fabrikate nach England wurde durch 
hohe Prohibitivzölle erschwert, während die englisch- 
indische Regierung die entwickeltere englische Industrie 
begünstigte durch Zulassung der Einfuhr ihrer Fabri-
	        
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