hatten, wie z. B. in Aegypten das Schafiitische und
bas Malikitische Recht, oder ob sie überall im Lande
ohne lokale Sonderung nebeneinander existirten.
Schließlich welche Rechtskommentare aus der großen
arabischen Rechtslitteratur waren bis dahin in Ost—
afrika als kanonisch angesehen und der Rechtsprechung
zu Grunde gelegt worden? Ostafrika ist von den
berühmten Universitäten und Lehrzentren der isla-
mischen Welt weit entfernt, und arabische Rechts-
codices waren damals noch nicht nach Deutschland
gekommen, so daß man nicht wissen konnte, welcher
von den berühmten Rechtslehrern des Islams in
dem Privatstudium der mohammedanischen Gelehrten
sowie in den Gerichtshösen des Landes das größte
Ansehen genoß.
Nachdem die Bitte um Auskunft über diese
Dinge unter dem 22. Januar 1893 der Kolonial=
Abtheilung des Auswärtigen Amtes unterbreitet
worden war, wurde durch gütige Vermittelung der
genannten Behörde in Sansibar und Ostafrika eine
Untersuchung angestellt und das Ergebniß derselben
dem Seminar durch Schreiben vom 16. Dezember
1893 und 17. Juni 1895 mitgetheilt. Der Kolonial=
Abtheilung gebührt der Dank des Seminars für
diese Vermittelung; in dieser wie in jeder anderen
Angelegenheit haben die Bestrebungen des Seminars
bei ihr stets das freundlichste Entgegenkommen und
die bereitwilligste Unterstützung gefunden.
Die meisten Muslims empfinden eine gewisse
Scheu, sich vor Nicht-Muslims über die intimsten
Fragen ihrer Religion zu äußern. In Sansibar
konnte außerdem der Umstand eine gewisse Empfind-
lichkeit erregen, daß die zu beantwortenden Fragen von
Seiten der Vertreter einer Nation gestellt wurden,
welche kurz vorher die Herrschaft der Oman-Araber
und ihrer Fürsten, der Sajsids, auf dem afrikanischen
Festlande an sich gerissen hatte. Und schließlich lag
eine gewisse Schwierigkeit bei der Beantwortung
dieser Fragen auch in dem Gegensatz zwischen Iba-
diten und Schafiiten, namentlich für die Juristen
am Hofe des Fürsten von Sansibar, denn sie mußten
zugeben, daß die Sajjids auch Schafittische Richter
angestellt hatten, mißbilligten dies aber nach meiner
Ansicht in ihrem Innern sicherlich auf das Ent-
schiedenste, durften jedoch unter der autokratischen
Regierung des Fürsten ihre Ueberzeugung nicht
äußern, waren also genöthigt, entweder zu schweigen
oder in schönen Phrasen zu lügen. Wenn troz
alledem der angesehenste Kadi von Soansibar, der
hochbejahrte Schaich Jahjä Bin Khalfan, die von
mir gestellten Fragen in voller Offenheit und Aus-
führlichkeit beantwortet hat, so fühle ich mich dafür
ihm wie auch Herrn Referendar Rößler, der die
Verhandlung mit ihm geführt hat, zu herzlichem
Danke verpflichtet. Bei der großen Autorität des
Schaich Jahjä schien es mir angezeigt, sein Re-
sponsum in deutscher Wiedergabe hier zu ver-
öffentlichen.
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Das Gutachten lautet in Uebersetzung:
„Im Namen Gottes, mit dessen Erwähnung
jedes Schriftwerk eingeleitet wird und durch dessen
Lobpreis man Hülfe zur Erreichung alles dessen,
was Recht und Wahrheit ist, zu erlangen strebt rc.
Ein Mann von den Deutschen, denen Gott große
Macht verliehen hat, hat mich gebeten, ihm darzu-
legen, ob in diesem Theil von Afrika Schafitisches
Recht gelte oder Ibaditisches, oder ob an einem
Orte das eine gelte, an einem anderen das andere,
und drittens, welches die bei Schafiiten und Iba-
diten angesehensten Rechtsbücher seien, welche der
Rechtsprechung zu Grunde gelegt werden.
Ich erwidere ihm darauf zunächst einleitungs-
weise das Folgende: Nachdem der Islam sich in
Sekten gespalten hat, deren Aufzählung uns zu weit
führen würde, die aber aus der Litteratur wohl be-
kannt sind, vertreten sie alle die Ansicht, sofern in
einer Sekte ein Oberhaupt gesetzmäßig schaltet und
unter den Bewohnern des betreffenden Landes das
Gesetz zur Anwendung bringt, daß es ihm nicht zu-
steht, andere Personen zu Beamten und Richtern zu
machen, als solche Muslims, die den Anforderungen
des Gesetzes entsprechen, und nicht andere anzustellen,
als solche Leute seiner Sekte, welche sein Vertrauen
genießen. Diese Regel gilt bei allen Sekten des
Islams, denn Jedermann behauptet, daß seine An-
sicht die allein richtige sei. Daher wird man nie
finden, daß ein sektirerischer (mu tazilitischer) Beamter
oder Richter nach einer der vier orthodoxen Rechts-
lehren entscheidet, noch auch das Gegentheil. Ebenso
perhorresziren es die Schiiten, einem orthodoxen
oder ibaditischen Befehlshaber zu unterstehen. Das
Gleiche gilt von den Ibaditen. Und dieser Grund-
satz gilt auch für die Dynastien, denn der Fürst
regiert seine Unterthanen (nach der Gesetzesauffassung
der Sekte, der er angehört), einerlei, ob ihnen dies
genehm ist oder nicht. So machen es auch die
Orthodoxen. Ihr Sultan (der türkische Sultan)
setzt über keinen Bruchtheil seiner Unterthanen irgend
einen anderen Beamten als einen Mann seiner
eigenen Partei, d. i. einen Hanefiten, von seltenen
Ausnahmen abgesehen. So hat man uns berichtet,
daß seine sämmtlichen Beamten in Syrien, Aegypten,
Babylonien und im Hignz wie er selbst Hanefiten
sind. Dasselbe ist die Praxis in Oman bis auf
diesen Tag; man nimmt dort die Beamten und
Richter nur aus der eigenen Sekte (der Ibaditen).
So ist es unter den Muslims althergebrachte Sitte.
Der Grund dieser Erscheinung ist folgender:
Die Spaltung des Islams beruht auf Meinungs-
verschiedenheiten über die Prinzipien der Rechts-
bildung wie über einzelne Rechtssätze. Nun kann
man sich zwar über Meinungsverschiedenheiten über
einzelne Rechtssätze hinwegsetzen, nicht aber über
Meinungssverschiedenheiten, betreffend die Prinzipien
der Rechtsbildung, denn in diesen Dingen kann nur
Einer Recht haben, nicht Alle. Gott wird am jüngsten
Tage zwischen den verschiedenen Sekten entscheiden!