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für immer denkwürdig bleiben, daß die Partei,
die gerade um diese Zeit die stärkste des Reichs-
tags wurde, daß das Zentrum erst durch den
französischen Kardinal Lavigerie, der auf dem
Katholikentage zu Köln im Oktober 1888 nach-
drücklich auf die ungehenere Wichtigkeit deutscher
kolonisatorischer Mitarbeit für die Zwecke der
Mission hinwies, bewogen werden konnte, aus
der bisherigen ablehnenden Haltung herauszu-
treten. Aber auch nach diesem Wandel blieb die
Stellung der Regierung noch eine schwierige, und
es war erklärlich, daß sie sich darauf beschränkte,
privaten Unternehmungsgeist nach Kräften zu
decken, und auch in diesem Bestreben vorsichtig
alles vermied, was zu größeren Ansprüchen an
Reichsmittel hätte führen oder in ernste Miß-
helligkeiten mit dem Auslande hätte verwickeln
können.
Als Bismarcks erstem Nachfolger das Wort
entschlüpfen konnte: „Je weniger Afrika, desto
besser“, suchte man dann einerseits möglichst rasch
zu abschließenden Grenzverträgen mit den fremden
Mächten zu gelangen, anderseits den Reichstag
durch tunlichst geringe Geldansprüche günstig zu
stimmen. Im Juni 1890 wurden die Grenzen
von Ost= und Südwestafrika und die von Togo
mit England vereinbart. Deutschland erwarb
Helgoland, überließ aber Uganda an England
und verzichtete auf wohlbegründete Ansprüche in
Witu und Somaliland. Das dem deutschen Be-
sitz vorgelagerte Zanzibar trat unter englisches
Protektorat. In Südwest entstand der „Caprivi-
zipfel“. Im November 1893 folgte der Vertrag
über Kamerun. Deutschland erkannte ausdrück-
lich Englands Ansprüche auf das gesamte obere
Nilgebiet an und wurde für die zwischenliegenden
Lande auf eine Auseinandersetzung mit Frank-
reich verwiesen.
Im März 1894 kam es dann zu einem Ab-
schlusse mit Frankreich. Mit Mühe behauptete
Deutschland eben noch die Fühlung mit dem
Sanga, dem westlichsten der großen rechten Kongo-
zuflüsse. Für den Zugang zum Tsadsee war,
wie für den von Südwestafrika zum Zambesi, ein
zweiter Caprivizipfel das Ergebnis der Verhand-
lungen. Frankreich erlangte eine breite Verbin-
dung zwischen Wadai und seinem Kongobesitz im
Rücken der deutschen Kolonie. Es ist richtig, daß
es seine Ansprüche auf eine ungleich regere Ex-
peditionstätigkeit stützen konnte; aber ebenso richtig
ist, daß die allgemeine Lage keinen Anlaß bot
zu solcher Nachgiebigkeit.
Damit war von der zweiten Reichskanzler-
schaft der Rahmen gezogen, in dem Deutschland
sich in Afrika versuchen sollte; spätere Abmachun-
gen haben nur noch Spezialfragen erledigt. Kurz
zuvor hatte Deutschland Spanien die Karolinen
und Marianen abgekauft. Damit sind Deutsch-
lands Kolonialerwerbungen zum Abschluß gelangt.
Es ward nicht alles erreicht, was trotz des späten
Beginnens noch hätte erreicht werden können.
Schlagend tritt das im Vergleich mit Frankreich
hervor. Aber Deutschland ist eingeführt über
See. Mit einem Kolonialbesitz, der das Vier-
fache des Heimatlandes an Umfang übersteigt, ist
es in der Lage, seine Berechtigung und Be-
fähigung als ländererwerbende Kulturmacht be-
weisen zu können.
*
Zur Aufteilung Afrikas hatte sich auch Italien
gemeldet. Im Mittelalter an der Spitze der
abendländischen Mittelmeervölker in ihrem Ringen
mit dem Orient, war es in gleicher Weise wie
Deutschland durch seine Zersplitterung zur Ohn-
macht verdammt worden. Nach erlangter Ein-
heit drängte die Lebenskraft seiner Bevölkerung
ähnlich wie dort nach außen. Als nächstes Ziel
bot sich Afrikas Nordküste, um welche die Vor-
fahren so oft und so heftig gekämpft hatten.
Aber hier kam Frankreich durch die Besetzung
von Tunis zuvor. Es besetzte dann 1885
Massaug. Man versuchte, ein Protektorat über
Abessinien zu gewinnen. Aber nach anfänglichen,
allerdings mühsamen und verlustreichen Erfolgen
entschied die Niederlage von Adua am 1. März
1896 zu Italiens Ungunsten. Es hat sich mit
dem heißen Küstenland zufrieden geben müssen.
Ein glücklicheres Geschick hatten die Belgier,
die der Klugheit und Entschlossenheit ihres Königs
den Kongostaat verdanken, das größte geschlossene
und gleichmäßig kulturfähige Gebiet, das ein
enropäischer Staat in Afrika besitzt, ohne daß ein
wesentlicher Aufwand von Staatsmitteln erforder-
lich geworden wäre.
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Wer diese Hergänge auch nur oberflächlich
mit denen der großen Entdeckungszeit vergleicht,
wird die unendlich viel größere Raschheit und
Klarheit beachten, mit der die Entscheidungen
fielen. Es war die technische Uberlegenheit der
Neuzeit, die damit in Wirksamkeit trat. Ende
der 50er und Anfang der 60er Jahre deckten
Speke, Burton und Grant die großen Binnen-
seen in den Quellgebieten des Nils auf und
gaben dadurch den Anstoß zur Erforschung des
innersten Afrika. Als das Jahrhundert zu Ende
ging, gab es auf dem schwarzen Kontinent keinen
Fuß breit Landes mehr, den jemand hätte in
Besitz nehmen können, ohne völkerrechtlich fest-
gelegte Rechte zu verletzen. Was sich in dem
trotz seiner Zugehörigkeit zur „alten“ Welt neuesten
Erdteil in vierzig Jahren vollzog, hat in Amerika
fast vier Jahrhunderte gedauert.