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hauptung stützt sich nicht, wie anderwärts noch viel-
ach, auf allgemeine Eindrücke, sondern auf die stati-
tisch gesicherte Tatsache, daß die Zahl der Sterbefälle
die der Geburten alljährlich erheblich übersteigt. im
letzten abgeschlossenen Jahre 1912 um 261—
Jeder wird leicht ermessen können, wie rasch des Erd-
des Volkes bevorsteht, wenn es uns nicht gelingt,
baldige Abhilfe zu schaffen. Man liest nicht selten
gerade mit ezug. auf ausgestorbene oder im Rückgang
stehende Völker der Südsec die gewissermaßen ent-
schuldigende Behauptung, sie seien bereits in vollem
Niedergange gewesen, als die erste europäische Kultur
zu ihnen kam. Nun, für Jap — und für andere
Inseln desgleichen — ist dieser Satz mit mathe-
matischer Sicherheit als unrichtig zu erweisen. Denn
hätte auch nur annähernd im gleichen Maße wie jetzt
eine Reihe von Jahrzehnten hindurch die Sterblichkeit
die Geburtenzahlen übertroffen, so müßten sie schon
längst ausgestorben sein. Mindestens also müßte sich
der Rückgang erst in der letzten Zeit ganz bedeutend
verstärkt haben. Es werden sich aber noch weitere
hinreichende Anhaltspunkte im Laufe unserer Betrach-
tungen dafür ergeben, daß der Niedergang noch gar
nicht sehr lange über dieses Volk hereingebrochen ist.
Viele Besucher der Südseeinseln haben sich mit
der auffälligen Erscheinung ihrer Volksabnahme be-
faßt, haben nach „dem Grunde“ dafür gesucht und mit
großer Bestimmtheit bald diesen, bald jenen Umstand
beschuldigt. Der eine sagt: „ganz einfach, der Sprung
von der steinzeitlichen zur modernen Kultur war zu
groß, als daß sie ihn ohne Schaden vertrugen“; ein
anderer spricht vom „Siechtum der Rasse“, ein dritter
schuldigt die Inzucht oder heidnischen Aberglauben oder
Unmoral an oder stellt sonst eine Einzelthese auf. Fast
alle sind dabei der Versuchung erlegen, aus der
gleichen in den verschiedensten Teilen der Inselwelt
zutage tretenden Wirkung auch auf eine gemeinsame
spezifische Ursache derselben zu schließen. Alle diese
Versuche, eine einzelne Nore anzunehmen, müssen als
verfehlt gelten. Keine kann für sich allein die Er-
scheinung erklären. Zwar wäre es denkbar, daß bei-
spielsweise eine einzelne Seuche ein ganzes Volk ver-
nichtet; aber an einem Orte könnten es die Pocken
sein, an einem andern die Pest oder an einem dritten
die Tuberkulose. Viel wahrscheinlicher haben wir es
mit der Summation verschiedener Schädlichkeiten zu
tun, wobei hier die eine, dort die andere besonders
stark hervortritt. Ein empfindliches Uhrwerk kann in
seinem regelrechten Gange durch die mannigfaltigsten
äußeren Eingriffe gestört werden, ein Körnchen Sand
kann genau dieselbe Einwirkung haben wie ein Schuß
asser oder ein roher Schlag gegen das Gehäuse.
Ja. man wird behaupten können, daß unter 100 ver-
schiedenen Manipulationen an einem solchen kompli-
zierten Mechanismus von ungeschickter Hand 90 und
mehr ihm nachteilig sein werden, nur wenige be-
deutungslos für ihn bleiben und nur ganz ausnahms-
weise einer für ihn förderlich ist. Eine Schädlichkeit
vermag die andere in ihrem Endeffekt zu unterstützen,
ein förderlicher Eingriff vielleicht auch einen Schaden
wieder auszugleichen oder zu mildern. Ein Gemein-
sames haben freilich alle die eben angedeuteten
Schädigungen, das ist ihr Herantreten von außen her,
ihr exogener Ursprung. Im Gegensatz zu ihm ist
aber auch eine zweite Möglichkeit oer Störung denk-
bar, eine endogene, die — wenn wir beim Bilde des
Uhrwerks bleiben — dann zustande kommt, wenn die
einzelnen Teile durch Abnutzung oder stoffliche Minder-
wertigkeit nicht mehr normal ineinander greifen. Auch
im Leben eines im Rückgang befindlichen Volkes
werden wir nach dem Vorhandensein solcher endo-
genen Schäden fahnden müssen. Kurz, nicht den
Grund seines Aussterbens, sondern die Gründe haben
wir zu suchen. Dabei werden wir an erster Stelle
den allgemeinen Gesundheitszustand und seine Stö-
rungen zu verfolgen haben. An zweiter Stelle wird
zu prüfen sein, wodurch diese bedingt werden, und
schließlich, wie ihnen abzuhelfen ist.
1. Epidemien der Insel.
Einen von außen eingedrungenen Feind haben
wir bereits in der Typhusepidemie des verflossenen
Jahres kennen gelernt. Sie ist indessen nicht die ein-
zige Seuche, die in letzter Zeit das gesundbeirtiete
Gleichgewicht des Volkes erschüttert hat. Ende 1910
ist eine Infektionskrankheit über Jap gegogen, die viele
hunderte Erwachsener befallen und bei einem erheb-
lichen Progentsatz tödlich geendet hat. Sie verrichtete
in so raschem Zuge ihr Werk, daß sice kaum zu ärzt=
licher Kenntnis, geschweige denn zu näherer Erfor-
schung oder Bekämpfung kam. Indessen hielt es nicht
schwer, noch nachträglich durch Erkundigungen über
ihren Verlauf und durch Untersuchung der damals von
ihr betroffenen und überlebenden Opfer ihr Wesen mit
Sicherheit festzustellen. Dr. Buse hat mir acht solcher
Patienten der damaligen Epidemie zugeführt, eine
Auzahl weiterer sah ich bei Bereisung der Dörfer.
Diese Leute bieten das sehr charakteristische Bild der
schlaffen Lähmung einer oder mehrerer Ertremitäten.
ja ich sah zwei Unglückliche, die an beiden Armen und
Beinen hilflos gelähmt waren. Ist die Lähmung voll-
ständig, so hat sich infolge Nichtgebrauches der Musku-
latur eine hochgradige Atrophic derselben ausgebildet:
ist nur eine Muskelgruppe, etwa die der Beuger, von
ihr betroffen, so ist eine Kontrakturstellung der Anta-
gonisten eingetreten. Bei einigen hat sie sich nach
monatelangem Bestande allmählich gebessert; bei an-
deren ist nach Ablauf der Erkranlung nur ein atakti-
scher Gang, ganz ähnlich dem der Tabiker, zurück-
geblieben. Es gibt nur zwei Krankheiten, die derartige
Residnen hinterlassen können, eine. Rückenmarkserkrau-
kung, die Poliomyelitis oder spinale Kinderlähmung
und eine Erkrankung der beripheren Nerven, die pri-
märe multiple Neuritis. Für diese haben wir
uns zu entscheiden, und zwar aus folgenden Gründen:
die vereinzelt vorgekommenen Besserungen nach langem
Bestande einer Lähmung sprechen für ihren Sitz in den
Nerven, während bei Rückenmarksaffektionen solche
Regenerationsvorgänge nicht beobachtet werden. Ferner
erzählten die Leute übereinstimmend, daß sie zunächst
lebhafte Schmerzen in den später gelähmten Gliedern
gehabt haben, was wiederum beim Sitz des Leidens
im Rückenmark nicht der Fall gewesen sein würde:
drittens ist niemals ein Kind, sondern nur Erwachsene
sind befallen worden, während bei der spinalen Kinder-
lähmung gerade das jugendliche Alter stark bevorzugt
wird. Ja wir können sogar noch einen Schritt weiter
gehen und nachträglich neben der Diagnose auch die
Herkunft dieser infektiösen Neuritis feststellen. Jür
Ausgangspunkt ist die Insel Nauru gewesen. Tort
hat gleichfalls im Jahre 1910, aber einige Monate
früher, eine ganz gleichartige Epidemie gewütet und
in wenigen Wochen 700 Menschen ergriffen. Sie ist
eingehend vom dortigen Regierungsarzte Ior. Müller
beschrieben worden.“) Diese genaue Schilderung läßt
au der Identität beider Seuchen gar keinen Zweifel.
Von Naurn aus ist sie, vermutlich mit einigen uner-
*) Dr. Müller: Eine epidemisch auftretende Er-
krankung des Nervensystems auf Nauru. Archiv für
Schiffs= und Tropenhyg. 1910; S. 535. Ebenda 1911:
Ein Fall aus Jap, von Dr. Mayer beschrieben.