Full text: Deutsches Kolonialblatt. XXV. Jahrgang, 1914. (25)

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hauptung stützt sich nicht, wie anderwärts noch viel- 
ach, auf allgemeine Eindrücke, sondern auf die stati- 
tisch gesicherte Tatsache, daß die Zahl der Sterbefälle 
die der Geburten alljährlich erheblich übersteigt. im 
letzten abgeschlossenen Jahre 1912 um 261— 
Jeder wird leicht ermessen können, wie rasch des Erd- 
des Volkes bevorsteht, wenn es uns nicht gelingt, 
baldige Abhilfe zu schaffen. Man liest nicht selten 
gerade mit ezug. auf ausgestorbene oder im Rückgang 
stehende Völker der Südsec die gewissermaßen ent- 
schuldigende Behauptung, sie seien bereits in vollem 
Niedergange gewesen, als die erste europäische Kultur 
zu ihnen kam. Nun, für Jap — und für andere 
Inseln desgleichen — ist dieser Satz mit mathe- 
matischer Sicherheit als unrichtig zu erweisen. Denn 
hätte auch nur annähernd im gleichen Maße wie jetzt 
eine Reihe von Jahrzehnten hindurch die Sterblichkeit 
die Geburtenzahlen übertroffen, so müßten sie schon 
längst ausgestorben sein. Mindestens also müßte sich 
der Rückgang erst in der letzten Zeit ganz bedeutend 
verstärkt haben. Es werden sich aber noch weitere 
hinreichende Anhaltspunkte im Laufe unserer Betrach- 
tungen dafür ergeben, daß der Niedergang noch gar 
nicht sehr lange über dieses Volk hereingebrochen ist. 
Viele Besucher der Südseeinseln haben sich mit 
der auffälligen Erscheinung ihrer Volksabnahme be- 
faßt, haben nach „dem Grunde“ dafür gesucht und mit 
großer Bestimmtheit bald diesen, bald jenen Umstand 
beschuldigt. Der eine sagt: „ganz einfach, der Sprung 
von der steinzeitlichen zur modernen Kultur war zu 
groß, als daß sie ihn ohne Schaden vertrugen“; ein 
anderer spricht vom „Siechtum der Rasse“, ein dritter 
schuldigt die Inzucht oder heidnischen Aberglauben oder 
Unmoral an oder stellt sonst eine Einzelthese auf. Fast 
alle sind dabei der Versuchung erlegen, aus der 
gleichen in den verschiedensten Teilen der Inselwelt 
zutage tretenden Wirkung auch auf eine gemeinsame 
spezifische Ursache derselben zu schließen. Alle diese 
Versuche, eine einzelne Nore anzunehmen, müssen als 
verfehlt gelten. Keine kann für sich allein die Er- 
scheinung erklären. Zwar wäre es denkbar, daß bei- 
spielsweise eine einzelne Seuche ein ganzes Volk ver- 
nichtet; aber an einem Orte könnten es die Pocken 
sein, an einem andern die Pest oder an einem dritten 
die Tuberkulose. Viel wahrscheinlicher haben wir es 
mit der Summation verschiedener Schädlichkeiten zu 
tun, wobei hier die eine, dort die andere besonders 
stark hervortritt. Ein empfindliches Uhrwerk kann in 
seinem regelrechten Gange durch die mannigfaltigsten 
äußeren Eingriffe gestört werden, ein Körnchen Sand 
kann genau dieselbe Einwirkung haben wie ein Schuß 
asser oder ein roher Schlag gegen das Gehäuse. 
Ja. man wird behaupten können, daß unter 100 ver- 
schiedenen Manipulationen an einem solchen kompli- 
zierten Mechanismus von ungeschickter Hand 90 und 
mehr ihm nachteilig sein werden, nur wenige be- 
deutungslos für ihn bleiben und nur ganz ausnahms- 
weise einer für ihn förderlich ist. Eine Schädlichkeit 
vermag die andere in ihrem Endeffekt zu unterstützen, 
ein förderlicher Eingriff vielleicht auch einen Schaden 
wieder auszugleichen oder zu mildern. Ein Gemein- 
sames haben freilich alle die eben angedeuteten 
Schädigungen, das ist ihr Herantreten von außen her, 
ihr exogener Ursprung. Im Gegensatz zu ihm ist 
aber auch eine zweite Möglichkeit oer Störung denk- 
bar, eine endogene, die — wenn wir beim Bilde des 
Uhrwerks bleiben — dann zustande kommt, wenn die 
einzelnen Teile durch Abnutzung oder stoffliche Minder- 
wertigkeit nicht mehr normal ineinander greifen. Auch 
im Leben eines im Rückgang befindlichen Volkes 
werden wir nach dem Vorhandensein solcher endo- 
  
  
genen Schäden fahnden müssen. Kurz, nicht den 
Grund seines Aussterbens, sondern die Gründe haben 
wir zu suchen. Dabei werden wir an erster Stelle 
den allgemeinen Gesundheitszustand und seine Stö- 
rungen zu verfolgen haben. An zweiter Stelle wird 
zu prüfen sein, wodurch diese bedingt werden, und 
schließlich, wie ihnen abzuhelfen ist. 
1. Epidemien der Insel. 
Einen von außen eingedrungenen Feind haben 
wir bereits in der Typhusepidemie des verflossenen 
Jahres kennen gelernt. Sie ist indessen nicht die ein- 
zige Seuche, die in letzter Zeit das gesundbeirtiete 
Gleichgewicht des Volkes erschüttert hat. Ende 1910 
ist eine Infektionskrankheit über Jap gegogen, die viele 
hunderte Erwachsener befallen und bei einem erheb- 
lichen Progentsatz tödlich geendet hat. Sie verrichtete 
in so raschem Zuge ihr Werk, daß sice kaum zu ärzt= 
licher Kenntnis, geschweige denn zu näherer Erfor- 
schung oder Bekämpfung kam. Indessen hielt es nicht 
schwer, noch nachträglich durch Erkundigungen über 
ihren Verlauf und durch Untersuchung der damals von 
ihr betroffenen und überlebenden Opfer ihr Wesen mit 
Sicherheit festzustellen. Dr. Buse hat mir acht solcher 
Patienten der damaligen Epidemie zugeführt, eine 
Auzahl weiterer sah ich bei Bereisung der Dörfer. 
Diese Leute bieten das sehr charakteristische Bild der 
schlaffen Lähmung einer oder mehrerer Ertremitäten. 
ja ich sah zwei Unglückliche, die an beiden Armen und 
Beinen hilflos gelähmt waren. Ist die Lähmung voll- 
ständig, so hat sich infolge Nichtgebrauches der Musku- 
latur eine hochgradige Atrophic derselben ausgebildet: 
ist nur eine Muskelgruppe, etwa die der Beuger, von 
ihr betroffen, so ist eine Kontrakturstellung der Anta- 
gonisten eingetreten. Bei einigen hat sie sich nach 
monatelangem Bestande allmählich gebessert; bei an- 
deren ist nach Ablauf der Erkranlung nur ein atakti- 
scher Gang, ganz ähnlich dem der Tabiker, zurück- 
geblieben. Es gibt nur zwei Krankheiten, die derartige 
Residnen hinterlassen können, eine. Rückenmarkserkrau- 
kung, die Poliomyelitis oder spinale Kinderlähmung 
und eine Erkrankung der beripheren Nerven, die pri- 
märe multiple Neuritis. Für diese haben wir 
uns zu entscheiden, und zwar aus folgenden Gründen: 
die vereinzelt vorgekommenen Besserungen nach langem 
Bestande einer Lähmung sprechen für ihren Sitz in den 
Nerven, während bei Rückenmarksaffektionen solche 
Regenerationsvorgänge nicht beobachtet werden. Ferner 
erzählten die Leute übereinstimmend, daß sie zunächst 
lebhafte Schmerzen in den später gelähmten Gliedern 
gehabt haben, was wiederum beim Sitz des Leidens 
im Rückenmark nicht der Fall gewesen sein würde: 
drittens ist niemals ein Kind, sondern nur Erwachsene 
sind befallen worden, während bei der spinalen Kinder- 
lähmung gerade das jugendliche Alter stark bevorzugt 
wird. Ja wir können sogar noch einen Schritt weiter 
gehen und nachträglich neben der Diagnose auch die 
Herkunft dieser infektiösen Neuritis feststellen. Jür 
Ausgangspunkt ist die Insel Nauru gewesen. Tort 
hat gleichfalls im Jahre 1910, aber einige Monate 
früher, eine ganz gleichartige Epidemie gewütet und 
in wenigen Wochen 700 Menschen ergriffen. Sie ist 
eingehend vom dortigen Regierungsarzte Ior. Müller 
beschrieben worden.“) Diese genaue Schilderung läßt 
au der Identität beider Seuchen gar keinen Zweifel. 
Von Naurn aus ist sie, vermutlich mit einigen uner- 
*) Dr. Müller: Eine epidemisch auftretende Er- 
krankung des Nervensystems auf Nauru. Archiv für 
Schiffs= und Tropenhyg. 1910; S. 535. Ebenda 1911: 
Ein Fall aus Jap, von Dr. Mayer beschrieben. 
 
	        
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