146 Erster Theil. Vierter Titel.
Vermuthung so lange zu beurtheilen, bis eine andere72) Willensmeinung desselben
klar ausgemittelt worden.
Auleung §. 65. Der Sinn jener ausdrücklichen Willenserklärung muß nach der gewöhn-
erlsrungen, lichen Bedeutung der Worte und Zeichen verstanden werden 77#).
8. 66. Die gewöhnliche Bedeutung ist nach der Zeit, wann 7“) die Erklärung
abgegeben worden, zu beurtheilen.
§. 67. Ist der Sprachsebrauch nach Beschaffenheit der Person 75) verschieden,
so muß auf die Person des Erklärenden gesehen werden.
§. 68. Hat Jemand seinen Willen durch einen Andem erklärt, so kommt es auf
den Sprachgebrauch des Letztern an 76), in sofern derselbe nicht solcher Ausdrücke, die
von dem Machtgeber bestimmt vorgeschrieben worden, sich bedient hat.
§. 69. Sind, nach Beschaffenheit des Gegenstandes, besondere Ausdrücke oder
Redensarten im Gebrauch 7°), so muß der Sinn der Willensäußerung diesem Ge-
brauche gemäß erklärt werden.
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diese, im Gegensatze zu den wirklichen, beziehen sich diese 55. 63 u. 64. Dergleichen vermuthete
Willenserklärungen beruhen nicht auf einer einzelnen Handlung, sondern auf einem dauernden per-
sönlichen Verhältnisse. Der Hauptfall ist das sog. mandatum prnesnumtum. Dieses wird, unter
Voraussetzung des bestimmten Verhältnisses, angenommen, wenn es auch ganz gewiß ist, daß der
vermuthliche Machtgeber von der Sache gar nichts wissen kann, mithin weder eine Absicht, noch eine
Handlung von ihm zu behaupten ist. I, 13, §§. 119 ff. In sosern daher die §88 63 u. 64 die ver-
mutheten Willenserklärungen an Handlungen knüpfen, ist die Bestimmung nicht zutreffend.
78) Der Grundsatz, daß nur die entgegengesetzte Erklärung die Fiktion endet, hängt mit dersel-
ben organisch zusammen. S. L. 40, §. 4 D. de proc. (III, 3); L. 4, §S. 1 D. qulibus mod. pign.
XX, 6). Vergl. 1, 13, 58. 126, 127. Diese Protestation muß solglich am gehörigen Orte ange-
acht oder ausgesprochen (klar ausgemittelt, wie der §. 64 sagt) sein.
732) (4. A.) Wenn ein als Bürge Auftretender die Bürgschaftsurkunde mit dem Zusatze „als
Zeuge“" unterschreibt, so ist keine Bürgschaft vorhanden; denn er hat durch die der Unterschrisft beige-
gte, mit dem Inhalte der Urkunde im Widerspruche stehende Einschränkung noch im letzten ensschei-
denden Augenblicke erklärt, daß er nicht Bürge sein wolle, soudern nur als Zeuge umerschreibe.
Bergl. Erk. des Obertr. v. 8. Juni 1852 (Archiv f. Rechtsf. Bd. IV, S. 301).
(5. A.) Die Verletzung einer Interpretations= Regel enthält einen Nichtigkeitsgrund des Urtheils.
Erk. dess. vom 19. Juni 1857 u. 6. Juli 1860 (Arch. f. Rechtss. Bd. XXXVIII, S. 115). Dem
widersprechend sagt dasselbe in dem Erk. vom 5. Mai 1868: Die Ss. 65 — 74, 147 u. 151, I. 4
des Allg. Landrechts, betreffend Regeln über die Auslegung von Willenserklärungen, enthalten keine
Rechtsgrundsätze, sie sind vielmehr lediglich aus dem Gesichtspunkte bloßer Anwcisungen und In-
struklionen für den Richter anzusehen. (Arch. f. Rechtss. Bd. LXXI, S. 160.)
74) Und besonders nach dem Orte, wo die Erklärung abgegeben worden, oder vielmehr, wo
der Erklärende einheimisch ist. Besonders gilt dies von brieflichen Erklärungen, bei welchen in der
Regel auf den Sprachgebrauch des Ortes, an welchem der Schreiber zu Hause ist, zu sehen sein wird.
Auch in dem Falle, wo Jemand eine Erklärung an einem ihm fremden Orte giebt, wird erwogen
werden müssen: ob der Erklärende den Sbrockg rauch desselben kannte und wahrscheinlich sich dessen
bediente, oder nicht. Was hierdurch von dem Orte angemerkt, erkennt der folgende §F. 67 durch Be-
zugnahme auf die Verschiedenheit des Sprachgebrauchs nach der Person an. ç
(1. A.) Das Obermibunal sagt in einem Erk. v. 20. April 1855: Hinsichtlich der Auslegung
von Urkunden dienen diejenigen allgemeinen Vorschristen zur Richtschnur, welche zur Zeit des zu fäl-
lenden Unheils maßgebend sind. (Archiv f. Rechtsf. Bd. XVII. S. 124.) Daran is nicht zu glau-
ben; beweisen läßt es sich nicht. Die späte Zukunft ist nicht berechtigt, was für ein Sinn heute
mit einer gewissen Redesorm habe verbunden werden müssen. Dies maß sich die Gesetzgebung, wie
der 8. 66 zeigt, auch nicht an. Die Frage sällt überhanpt nicht unter die Lehre von der Anwendung
der Gesetze, sornern ist thatsächlicher Natur.
75) Hinsichtiich ihrer gesellschaftlichen Stellung oder Herkunft. S. die vor. Anm.
76) Diese Auslegungsregel findet auch auf den instrumentirenden Beamten, welcher die Erklä-
rung abfaßt, Anwendung. Dies ist bestritten, weil der Richter oder Notar sich einer allgemeinen
verständlichen Sprache bedienen solle. Allein hier handelt es sich nicht um Anwendung oder Befol-
gung einer gesetzlichen Vorschrist, sondern um die Ausmittelung einer Thatsache, nämlich um die
Ghorsüchlichr Frage: welschen wahren Gedanken der Erklärende hat ausdrücken wollen. Diese That-
sache kann durch den Inhalt der Dienstinstruktion des Beamten nicht festgestellt werden, zumal deren
gewissenhafteste Besolgung doch erst von der Aussaffungsgabe des Beamten abhängt.