seine Blicke richtete, blieb kein Auge thränenleer. — Auf dem im
Osten der Stadt gelegenen Galgenberge, dem damaligen Richtplatze,
angekommen, sprach Georg mit lauter, weithin vernehmbarer Stimme:
„Daß ich schuldlos sterbe, möge Gott der Barmherzige an meinem
dürren Lindenstabe bezeugen!“ Nach diesen Worten hob er ihn in die
Höhe und stieß ihn mit aller Kraft in die Erde. Und siehe! kaum
hatte der Henker sein Werk vollbracht, so sah man an dem Lindenstabe
die ersten grünen Keime. Derselbe wurde nun ausgehoben und zum
gottesfürchtigen Einsiedler Schneevogel getragen, der ihn neben seiner
Kapelle in die lockere Erde einsetzte und mit Sorgfalt hegte und pflegte.
Aus dem dürren Stabe aber wuchs im Laufe der Zeit ein mächtiger
Lindenbaum, die Urmutter der stattlichen Linden heran, die noch heut-
zutage bei dem Kapuzinerkloster zu Mariasorg stehen.
379. Der Galgenbaum bei Blankenhain.
(Ziehnert, Sachsens Volkssagen. Anhang, No. 51.)
Auf dem Rittergute Blankenhain im Amte Zwickau diente einst
ein ehrlicher und braver Hirtenjunge, namens Liebhold, dem aber die
Knechte und Mägde gehässig waren, weil er, sobald er von denselben
etwas sah, was wider den Willen seiner lieben Herrin, der Edelfrau,
war, ihr solches immer sogleich anzeigte. Als daher einmal der gnädi-
gen Frau ein goldnes Kettchen weggekommen war, ergriff das gottlose
Gesinde die günstige Gelegenheit, den armen Jungen zu verderben; der
gewissenloseste unter den Knechten ging hin zur Herrin und zeigte Lieb-
holden als den Dieb an, den er über der That betroffen habe. Die
Edelfrau übergab den Angeklagten den Gerichten, welche ihn nach viel-
fachem Verhöre, wie hoch er auch seine Unschuld beteuerte, auf den
falschen Schwur seines Anklägers zum Strange verdammten. Nach
wenigen Tagen wurde das Urteil vollzogen. Unter wimmerndem Ge-
läut der Sünderglocke führte man den armen Liebhold hinaus vor das
Dorf, wo ein großer Balken mit einem Arme oben als Galgen auf-
gerichtet war. Noch einmal, ehe er in den Tod ging, betete er zu
Gott, daß er seine Unschuld rechtfertigen möge und dann, zu den Um-
stehenden gewendet, rief er: „Der mich angeklagt hat, der hat einen
falschen Eid geschworen. Denn, so wahr ich unschuldig bin, so wahr
wird dieser Balken, welcher mein Galgen sein soll, nach meinem Tode
anfangen zu grünen und Zweige treiben, und Jahrhunderte hindurch
als ein frischer Baum bewundert werden!“ Darauf wendete er sich
r“ Henker und litt mit frommer Zuversicht auf das Jenseits den unver-
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