Die Sage erzählt nun über die Entstehung dieses Stollens 5½
gendes: Nach dem dreißigjährigen Kriege trieben sich in den Wäldern
Scharfensteins wie anderwärts Räuber und Wildschützen, welche sich
meist aus den entlassenen Söldlingen rekrutierten, umher. Ein Herr
von Einsiedel, welchem Scharfenstein gehörte, beschloß den Wild-
schützen mit aller Macht nachzugehen, um sein Gebiet von ihnen zu
säubern, und es gelang ihm auch endlich, zwei derselben gefangen zu
nehmen. Es gab damals noch eine furchtbare Strafe für die auf der
That ertappten Wilddiebe: das Hirschreiten. Der Schloßherr zögerte
nicht, diese Strafe auch über die beiden gefangenen Raubschützen ver-
hängen zu lasseu. Dieselben sollten auf einen starken lebenden Hirsch,
den man zu diesem Behufe eingefangen hatte, gebunden und dann
ihrem weiteren Schicksale überlassen werden. Das war einem zehn-
fachen Tode gleich zu achten, denn man hatte Beispiele, daß nach
Tagen und Wochen die geängstigten Tiere ihre schreckliche Last, zer-
fleischt und doch noch lebend mit sich herumschleppten. Als den beiden
Missethätern das Urteil verkündigt worden war, erkannten sie sofort
dessen furchtbare Bedeutung und sie flehten um Gnade. Den älteren
von ihnen durchzuckte ein rettender Gedanke und er sprach zum Schloß-
besitzer: „Gnädiger Herr, wir sind Bergleute unserem Berufe nach,
und in diesem Fache gar wohl erfahren. Schon früher ist uns der
Wunsch nahe gelegt worden, einen Stollen vom Wasserspiegel der
Zschopau aus zu treiben, damit eine Wassermühle im Dorfe, an der
es jetzt so sehr fehlt, angelegt werden könne. Erlaßt uns nur die
furchtbare Strafe des Hirschreitens, und zur Sühne unserer Thaten
machen wir uns anheischig, den besagten Stollen durch den hohen
Felsen in Zeit von drei Tagen und drei Nächten zu treiben und zwar
nur mit Schlägel und Eisen.“ Der Schloßherr ging nach kurzer
Überlegung auf den Vorschlag ein, und die beiden Verurteilten be-
gannen sofort ihr schweres Werk. Es wurden ihnen Leute gestellt,
welche die nötige Handreichung thun mußten, und genau nach Verlauf
der ausbedungnen Zeit war der Stollen fertig. Die Wildschützen freilich
waren vor Erschöpfung dem Tode nahe; halb entseelt lagen sie neben
dem Stolleneingange. Doch erholten sie sich und der Ritter vom
Scharfenstein hielt sein Wort und schenkte ihnen Freiheit und Leben.
Erzählt wird, daß der berüchtigte Raubschütz Carl Stülpner,
Ende des 18. Jahrhunderts, ein Nachkomme des einen der Begnadigten
gewesen sein soll.
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