Full text: Sagenbuch des Erzgebirges.

  
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41. Die weiße Frau des hohen Steins bei Graslitz. 
(Joh. Böhm in der Erzgebirgs-Zeitung, 2. Jahrg. S. 131.) 
Es weidete einmal ein Junge aus Waltersdorf, einem Dorfe 
am Südostfuße des hohen Steines, seine Herde, als um die Mittags- 
zeit herum eine weiße Frau erschien und ihn fragte, was er denn in 
seinem Zwerchsacke trage. „Mein Brot,“ antwortete furchtsam der 
Hirt. „Gieb mir etwas davon,“ bat die Frau, und während der An- 
gesprochene ihrem Wunsche willfahrte, sagte er, daß er ihr nur 
wenig bieten könne, indem seine Bäuerin ein geiziges Weib sei, die 
ihrem Gesinde die Brocken in die Schüssel zähle. Da überreichte ihm 
die weiße Frau eine kleine Rute mit dem Bedeuten, das geizige Weib 
damit zu berühren, wenn sie im Begriffe stehe, ihm sein Brot mit auf 
die Hutweide zu geben. Außerdem streifte sie mit der Hand das Laub 
von dem Aste eines Baumes und sprach: „Nimm auch diese Blätter 
und hebe dieselben wohl auf; sie sind der Lohn für das mir gereichte 
Brot.“ Nach diesen Worten entschwand die Frau den Blicken des 
Hirten, der das erhaltene Geschenk in seinen Taschen barg. Als er 
aber am Abend seine Herde nach Hause trieb, wurde ihm das Tragen 
der Blätter unbequem, und einfältig, wie er war, warf er sie von sich. 
Wie reute ihn aber sein Thun, als er zu Hause angelangt, in seiner 
Tasche drei funkelnde Goldstücke fand, welche durch Verwandlung dreier 
von den geschenkten Blättern, die in seiner Tasche kleben geblieben, 
entstanden waren. Wohl lief er schnell zurück, um das so leichtsinnig 
weggeworfene Geschenk der gütigen Frau wieder aufzunehmen; allein 
sein Suchen war und blieb vergeblich. Die Blätter blieben verschwun- 
den. Als ihm am andern Morgen die Bäuerin sein Brot schnitt, 
berührte sie der junge Hirte, ungesehen von ihr, mit der erhaltenen 
Rute und war erstaunt, das geizige Weib alsbald sprechen zu hören: 
„Dem Hirten muß ich heute ein großes Stück Brot samt einer Butter- 
flade und mehrere Kuchen mit auf die Weide geben; er verdients.“ 
Und es geschah. So oft der Hirt die Bäuerin mit seiner wunderthä- 
tigen Rute berührte, erhielt er eine reichliche und gute Zehrung. — 
Einst aber unterzog die Magd des Hauses den Stall einer durchgrei- 
fenden gründlichen Reinigung, und bei dieser Gelegenheit warf sie des 
Hüters Rute, der sie im Stalle oben unter einen Balken gesteckt hatte, 
mit hinaus. Weinend beklagte dieser nach seiner Nachhausekunft seinen 
unersetzlichen Verlust; aber das half ihm nichts. Die Bäuerin schnitt 
fortan das trockene Brot fast noch kleiner als vordem und bitter be- 
reute es der Betroffene, das wohlthätige Geschenk der weißen Frau 
nicht sorgsamer aufbewahrt zu haben. Diese erschien dem jungen Hir- 
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