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habung und Aufrechterhaltung derselben berufen sind. Daraus ergibt sich,
dass das Gesetz gemeinkundig gemacht werden muss. Nicht jede Ver-
öffentlichung des Gesetzes aber it Verkündigung desselben
im staatsrechtlichen Sinne. Die Verkündigung ist ein Willensakt des Gesetz-
gebers und kann deshalb nur ausgehen von dem Gesetzgeber oder von dem-
jenigen, den er dazu beauftragt hat; sie ist ein obrigkeitlicher Akt, ein Be-
standteil des Gesetzgebungs-Vorgangs. Es muß zugleich eine rechtliche Ge-
währ dafür geboten sein, dass der veröffentlichte Wortlaut des Gesetzes voll-
ständig und genau ist, und dass er in der Tat Gesetz geworden ist; die Ver-
kündigung muss daher eine Amtshandlung sein, die nur derjenige wirk-
sam vornehmen kann, der dazu kompetent ist, und für welche derselbe, wie
für alle Amtshandlungen, verantwortlich ist. Die Verkündigung muss aus
demselben Grunde indengesetzlich bestimmten Formen erfolgen;
die Fiktion, dass das Gesetz kündbar sei und die darauf beruhende Rechts-
regel ignorantia juris nocet setzen die Beobachtung dieser Formen notwendig
voraus. Die ordnungsmässige Verkündigung ist für Behörden und Unter-
tanen das äussere Merkmal, dass ein Gesetz zustande gekommen ist; man
muss dies in zuverlässiger Weise feststellen können, was unmöglich ist, wenn
die Verkündigung in willkürlicher Art erfolgen könnte !).
Die Unterscheidung zwischen Ausfertigung und Verkündigung ist angegriffen
worden von G. Meyer in Hirths Annalen 1878 S. 372 ff. und Staatsrecht $ 169,
von Gierkee. a. O. S. 230 (mit demselben übereinstimmend Schulze, Deut-
sches Staatsr. I S. 527). Binding, Krit. Vierteljahresschr. N. F. II S. 550 und
Strafr. IS. 198, und Liebenow, Die Promulgation, Berlin 1901, welche in der
Ausfertigung (die man in Frankreich zeitweise Promulgation genannt hat)
einen ‚„integrierenden Bestandteil der Verkündigung“ erblicken. Die Ausfertigung
aber ist ein Akt, der sich der öffentlichen Wahrnehmung ganz entzieht und der auch
nicht darauf gerichtet ist, das Gesetz gemeinkundig zu machen, sondern den Erlass
und den Wortlaut desselben urkundlich festzustellen. So wenig die
Ausfertigung eines gerichtlichen Urteils oder eines notariellen Rechtsgeschäftes oder
der Bestallung eines Beamten usw. ein Bestandteil der Verkündigung ist, ebenso-
wenig ist dies bei einem Gesetz der Fall. Auch kann sich nicht hinter der Ausfertigung
„ein Stück Sanktion‘ (!) verbergen, wie Gierke sagt, wohl aber können Sanktion
und Ausfertigung uno actu erfolgen und deshalb faktisch zusaınmenfallen. Vgl. mein
Staatsr.d.D. R.IIS.13 ff. Mit der hier vertretenen Ansicht stimmen überein Zorn
„IS. 4l6öfg. Gareis $. 175. Mejer, Einl. S. 297. Hensel, Annalen 1882
S.25. Hänel, Studien II. S. 51; besonders Jellinek8S.321fg. Anschütz,
Enzyklop. S. 600 u. viele Andere.
II. Der Weg der Reichsgesetzgebung?). Den vorhergehenden Erörte-
rungen zufolge gehören zu dem giltigen Zustandekommen eines Gesetzes vier
Erfordernisse: die Feststellung des Gesetzes-Inhaltes (Gesetzentwurfs), die
Sanktion, die Ausfertigung und die Verkündigung. Hinsichtlich derselben
enthält die Reichsverfassung folgende Vorschriften:
1. Die Feststellungdes@Gesetzes-Inhaltes erfolgt durch
übereinstimmende Mehrheitsbeschlüsse des Bundesrates und des Reichs-
tages. Ein Gesetz kann zahlreiche und wichtige Vorstufen durchgemacht
1) Vgl. meine Abhandlung im Arch. f. öffentl. Recht Bd. 18 S. 305 ff.
2) G. Meyer, Der Anteil der Reichsorgane an der Reichsgesetzgebung. Jena 18889.
Ferner Fricker, Die Verpflichtung des Kaisers zur Verkündigung der Reichsgesetze.
Leipzig 1885. Kolbow, Das Veto des Kaisers. Arch. f. öffentl. R. Bd. V 8.73 ff.
Frormann, Die Beteiligung des Kaisers an der Reichsgesetzgebung. Daselbst
Ba. XIV S.31ff.e FranzSchmid, Zur Auslegung des Art. 5 der RV. (Zeitschr.
f. die ges. Staatswissensch. Bd. 61 S. 254 ff.).