Full text: Das öffentliche Recht der Gegenwart. Band I. Deutsches Reichsstaatsrecht. (1)

120 Fünfter Abschnitt: Die Funktionen des Reiches. 815 
  
haben, ehe es Gegenstand einer Beschlussfassung im Bundesrate oder Reichs- 
tage wird; aber diese Vorstufen sind nicht durch Rechtssätze geregelt. Es 
ist in den tatsächlichen Verhältnissen begründet, dass die Vorarbeiten für 
Gesetzentwürfe, die Formulierung des Inhaltes und die Aufstellung von Mo- 
tiven in der Mehrzahl der Fälle von den dem Reichskanzler unterstellten 
obersten Reichsbehörden und unter seiner Leitung und Aufsicht vorgenom- 
men werden. Aber es gibt keinen Rechtssatz, der dies anordnet; staatsrecht- 
lich ist es gleichgültig, welche Schicksale ein Gesetzentwurf gehabt hat, be- 
vor er an den Bundesrat oder Reichstag gelangt. Derstaatsrechtlich 
normierte Weg der Reichsgesetzgebung fängt erst an, wenn sich entweder der 
Bundesrat oder der Reichstag mit dem Entwurf befasst. Bundesrat und 
Reichstag sind einander vollkommen gleichgestellt. Keine der beiden Körper- 
schaften ist auf ein Veto beschränkt oder genötigt, einen Gesetzesvorschlag 
im ganzen anzunehmen oder zu verwerfen; ebensowenig besteht eine Rang- 
ordnung hinsichtlich der Zeitfolge der Beschlussfassung. Jede der beiden 
Körperschaften hat das sogen. Recht der Initiative. Die letztere kann in bei- 
den nur von einem Antrage eines Mitgliedes der betreffenden Körperschaft 
ihren Ausgang nehmen. Im Bundesrat ist nach Art. 7 Abs. 2 der RV. ‚jedes 
Bundesglied befugt, Vorschläge zu machen und in Vortrag zu bringen, und 
das Präsidium ist verpflichtet, dieselben der Beratung zu übergeben‘. Im 
Reichstage ist die Stellung von Anträgen seitens der Mitglieder durch die 
Geschäftsordnung normiert; dieselbe verlangt ($ 22), dass jeder Antrag von 
mindestens 15 Mitgliedern unterzeichnet sei. | 
Eine scheinbare Differenz zwischen den Rechte des Bundesrats und dem des 
Reichstages, Gesetze vorzuschlagen, ist dadurch begründet, dass der Art. 23 der RV. 
dem Reichstage diese Befugnis ‚innerhalb der Kompetenz des Reiches‘‘ gestattet, 
während der Bundesrat an eine solche Beschränkung nicht gebunden ist. Da aber 
auch die Veränderung der Kompetenz des Reiches selbst nach Art. 78 der RV. dem 
Reiche zusteht, also „innerhalb der Kompetenz des Reiches‘ liegt, so ist es dem 
Reichstage unbenommen, eine Erweiterung dieser Kompetenz vorzuschlagen. Vgl. 
Hänel, Studien I S. 156 ff. 160. 256. Kine praktische Bedeutung komınt der in 
Rede stehenden einschränkenden Klausel aber in keinem Falle zu. Denn Gesetzes- 
Vorschläge des Reichstages kann der Bundesrat ohnedies nach seinem Belieben ver- 
werfen, auch wenn sie innerhalb der Reichskoinpetenz sich halten; stimmt er den- 
selben aber zu und werden sie auf verfassungsmässigem Wege zum Gesetz erhoben, 
so wird die Gültigkeit derselben dadurch nicht beeinträchtigt, dass der Vorschlag 
vom Reichstage ausgegangen ist, da eben die Uebereinstimmung von Bundesrat und 
Reichstag genügt, um auf Grund derselben ein Gesetz zu sanktionieren. 
Wenn eine der beiden Körperschaften einen Gesetzesvorschlag beschlossen 
hat, so ist derselbe der andern zu übermitteln. Geht der. Vorschlag vom 
Bundesrat aus, so wird die Vorlage ‚nach Massgabe der Beschlüsse des Bundes- 
rates im Namen des Kaisers an den Reichstag gebracht“. RV. Art. 16. Der 
Reichskanzler als der einzige Reichsminister hat die Vorlage einzubringen; 
er tut dies nicht als Vorsitzender des Bundesrates, sondern als Beamter des 
Kaisers, demgemäss nicht im Auftrage des Bundesrates oder im Namen der 
verbündeten Regierungen, sondern im Auftrage und im Namen des Kaisers. 
Ob er für die Einbringung jeder einzelnen Vorlage einer speziellen kaiser- 
lichen Ermächtigung bedarf, ist reichsgesetzlich nicht bestimmt; scheint aber 
durch die ausdrückliche Hervorhebung, dass die Vorlage im Namen des Kaisers
	        
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