130 Fünfter Abschnitt: Die Funktionen des Reiches. $ 15
IV. Die Wirkungen der Gesetze beruhen teils auf der Form, teils auf
dem Inhalt derselben; man hat demnach zu unterscheiden die formelle und
die materielle Gesetzeskraft.
1. Die formelle Gesetzeskraft ist der Rechtssatz, dass ein in der Form
des Gesetzes ergangener Willensakt des Reiches nur im Wege der Reichs-
gesetzgebung wieder aufgehoben oder abgeändert werden kann und seiner-
seits allen mit ihm in Widerspruch stehenden älteren Anordnungen derogiert !).
Dieser Satz gilt von allen Gesetzen, gleichviel worin ihr Inhalt besteht; auf
ihm beruht die überaus grosse praktische Wichtigkeit des formellen Ge-
setzesbegriffes. Es ist ein Irrtum, anzunehmen, dass der Weg der Gesetz-
gebung n u r in denjenigen Fällen beschritten wird, in welchen er von Rechts-
wegen beschritten werden muss; in zahlreichen Fällen wird der Weg der
Gesetzgebung gewählt, in denen die Regierung auch im Wege der Verordnung
das Ziel erreichen könnte, oder es werden in ein Gesetz Vorschriften mit auf-
genommen, welche nur Ausführungsbestimmungen sind und auch durch Ver-
ordnungen, Instruktionen, Verfügungen erlassen werden könnten. Die Re-
gierung bindet sich hierdurch zwar mehr als erforderlich, aber sie sichert sich
die Zustimmung der Volksvertretung, sie entlastet sich von ihrer
Verantwortlichkeit, sie gewinnt für die Massregel eine grössere
Festigkeit und Beständigkeit, sie entgeht den Schwierigkeiten, welche in
betreff der zur Durchführung der Massregel erforderlichen Kosten bei Fest-
stellung des Etats entstehen könnten. Aus diesen Gründen bedarf das
konstitutionelle Staatsrecht den Weg der Gesetzgebung auch ausser-
halb des Gebietes der Rechtsordnung. Die durch das konstitutionelle Sy-
stem gegebene Gefahr der Konflikte zwischen Regierung und Volksvertretung
wird abgeschwächt. Die Verantwortlichkeit der Regierung wird dadurch erst
erträglich und durchführbar, dass der Regierung die Möglichkeit eröffnet ist,
anstatt auf eigene Hand Massregeln zu treffen, durch das Beschreiten des
Gesetzgebungsweges die Volksvertretung zur Mitwirkung an allen Angelegen-
heiten, bei denen es die Regierung für notwendig erachtet, herbeizuziehen.
Ist für irgend welchen staatlichen Willensakt die Form des Gesetzes angewen-
det worden, so ist hierdurch das Gebiet, auf welchem die Regierung allein
ihren Willen zur Geltung bringen kann, begrenzt; der im Wege des Gesetzes
„Das Gesetz im formellen und materiellen Sinne‘. Leipzig 1888 und Arndt, Ver-
ordnungsr. S. 5 ff. u. Staatsrecht S. 156 ff. Diese Schriftsteller erkennen in Wahrheit
n urden formellen Gesetzesbegriff an, indem sie unterstellen, dass alles, was in Gesetzes-
form gebracht ist, den materiellen Charakter eines Rechtssatzes habe. Vgl. dagegen
meine Ausführungen im Archiv £. öffentl. R.I S. 177 ff. und in. Staatsr. des Deutschen
R.Bd. IV (4. Aufl.) S. 532 ff.; ferner G.Meyerin Grünhuts Zeitschr. Bd. VIII S. 1 ff.
und Staatsrecht $ 155. Seligmann 8. 3ff. Seydel, Bayer. Staatsr. Bd. II
S. 304ff. JellinekS8S.73ff. DyroffS.884ff. GAnschütz, Krit. Studien
zur Lehre vom Rechtssatz und formellen Gesetz. Leipzig 1891 und Enzyklop. 8. 592 ff.
Bornhak, Allgem. Staatslehre S. 158 ff. Dambitsch S. 37.
1) DyroffS. 8149 ff. unterscheidet in der Gesetzeskraft die Bestandsgarantie und
die Gültigkeitsgarantie und zerlegt die letztere in die Kompetenzgarantie und die Aende-
rungskraft und führt diese Analyse in scharfsinniger Weise durch; ich kann mich aber
nicht überzeugen, dass dadurch die theoretische Erkenntnis selbst an irgend einem
Punkte gefördert wird; vielmehr führen unnütze Distinktionen zu einer scholastischen
Behandlungsweise, die nicht ohne schwere Nachteile und Gefahren ist.