8 15 IV. Die Wirkungen der Gesetze. 131
erklärte Wille des Staates kann nur auf demselben Wege abgeändert werden.
Der Weg der Gesetzgebung ist demnach zu beschreiten nicht nur in denjeni-
gen Fällen, in denen es sich um eine Abänderung der Rechts ordnung han-
delt oder in denen durch eine spezielle Verfassungsbestimmung dieser Weg
vorgeschrieben ist, wie z. B. bei der Feststellung des Etats, sondern auch
überall da, wo irgend ein in Gesetzesform erklärter Wille des Staates abge-
ändert, modifiziert, ausser Geltung gesetzt werden soll!). Die formelle Ge-
setzeskraft entspricht der Wirkung, welche die gesetzlich vorgeschriebenen
FormenderRechtsgeschäfte haben, insofern ein Vertrag, wel-
cher gerichtlich, notariell, schriftlich abgeschlossen werden muss, nur in
der entsprechenden Form abgeändert oder aufgehoben werden kann; zu den
materiellen, auf dem Inhalt des Geschäfts beruhenden Wirkungen hat dies
keine Beziehung.
Die formelle Gesetzeskraft ist unabhängig von dem Inhalt der Gesetze;
es gibt viele und wichtige staatliche Anordnungen, denen zwar formelle Ge-
setzeskraft zukommt, welche aber nicht Rechtsnormen sind; dahin gehören
2. B. die zahlreichen instruktionellen Vorschriften der Prozessordnungen,
Subhastationsordnungen, Grundbuchordnungen usw. Deshalb können die-
selben auf keinem andern Wege als auf dem der Gesetzgebung aufgehoben
oder abgeändert werden; das Rechtsmittel der Revision kann aber auf ihre
Verletzung nicht gegründet werden ?).
Die formelle Gesetzeskraft ist ferner unabhängig davon, ob das Gesetz
materiell in Kraft getreten ist oder nicht; sie tritt ein, sobald das Gesetz
verkündigt ist. Von diesem Zeitpunkte an kann das Gesetz nicht auf
anderem Wege wieder rückgängig gemacht oder abgeändert oder suspendiert
werden, als durch einen in der Form des Gesetzes ergehenden Akt. Weder ein in
dem publizierten Gesetz selbst bestimmter Anfangstermin seiner Geltung, noch
der im Art. 2der RV. festgesetzte Anfangstermin seiner ‚verbindlichen Kraft“
bezieht sich auf die formelle Gesetzeskraft ®). Die letztere tritt immer für das
ganze Gesetz in demselben Augenblick ein, während die materielle Geltung
für verschiedene Anordnungen eines Gesetzes zu verschiedenen Zeitpunkten
beginnen kann ?).
Mit diesem Begriff der formellen Gesetzeskraft stehen zwei sehr wich-
tige staatsrechtliche Erscheinungen im Zusammenhang. Zunächst nämlich
kann einem Willensakt des Staates, welcher nicht im Wege der Gesetz-
1) Sehr treffend äussert sich hierüber G. Meyer bei Grünhut VIII S. 26. Vgl.
auch Schulze, Deutsches Staatsr. I S. 520; Gneist in v. Holtzendorffs Rechts-
lexik. 3. Aufl., Bd. III S. 1064 u. Jellinek $. 256 ff.
2) Dies ist in der prozessrechtlichen Literatur und in der Praxis anerkannt. Ent-
scheidungendesReichsgerichtsinCivils. Bd. V S. 366 u. in Strafsachen
Bd. VI 8.27. Vgl. Seligmanna.a. 0.8.40. 41. 105. 123. 172, Jellinek 8. 245,
AnschützS. 76 fg. Man ersieht daraus, wie haltlos die von v. Martitz, Zorn
u. a. aufgestellte Behauptung ist, dass die Unterscheidung der materiellen und for-
mellen Gesetze ‚der Praxis‘ unbekannt sei.
3) Die formelle Gesetzeskraft mit allen ihren Wirkungen tritt daher auch dann ein,
wenn das Gesetz materiell unwirksam, insbesondere unanwendbar bleibt, weil es sich
auf einen Tatbestand bezieht, welcher nicht eintritt, vielleicht gar nicht eintreten kann.
Vgl. Dyrof£fS. 871. Die hier gegebenen Beispiele lassen sich sehr leicht vermehren.
4) Die Reichsgesetzgebung enthält dafür viele Beispiele. x
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