Full text: Das öffentliche Recht der Gegenwart. Band I. Deutsches Reichsstaatsrecht. (1)

134 Fünfter Abschnitt: Die Funktionen des Reiches. 8 15 
  
Rechtssatz erheben. Gemeinkundigkeit des Gesetzes ist in keiner Beziehung 
eine Voraussetzung der Gültigkeit; die verbindliche Kraft des Gesetzes tritt 
vielmehr unmittelbar durch den Ablauf der l4tägigen Frist ein, ohne alle 
Rücksicht darauf, ob die Frist die Gemeinkundigkeit ermöglichte 
oder nicht !). Daher ist es auch zulässig, den Anfang der Geltung auf den Tag 
der Verkündigung selbst zu bestimmen, also auf einen Zeitpunkt, an welchem 
das Stück des Reichsgesetzblattes noch gar nicht im ganzen Umfange des 
Bundesgebietes verbreitet sein kann ?). Aus demselben Grunde ist es ohne 
Belang, ob das Reichsgesetzblatt in der Tat in allen Teilen des Bundesgebietes 
Verbreitung gefunden hat; die Reichsgesetze gelten auch in denjenigen Orten, 
in denen niemals jemand ein Stück des Reichsgesetzblattes zu Gesicht be- 
kommen hat. Deshalb ist es auch unerheblich, ob das Reichsgesetzblatt in 
einen gewissen Teil des Reichsgebietes gelangen konnte oder nicht; in 
einer belagerten Festung, in einem vom Feinde besetzten Landstrich, in einer 
durch Ueberflutung oder andere Natur-Ereignisse unzugänglich gemachten 
Gegend erlangen die Gesetze des Deutschen Reiches in demselben Zeitpunkt 
wie im übrigen Bundesgebiet verbindliche Kraft. 
Der Termin, an welchem die verbindliche Kraft der Reichsgesetze beginnt, 
ist für das ganze Bundesgebiet derselbe; die grössere oder geringere Entfer- 
nung von Berlin macht keinen Unterschied ®). Aber er gilt auch nur für das 
Bundesgebiet, nicht für das Ausland. In den Konsulargerichtsbezirken, 
welche in Europa, in Aegypten oder an der asiatischen Küste des Schwarzen 
oder des Mittelländischen Meeres liegen, erlangen neue Gesetze mit dem Ab- 
laufe von zwei Monaten, in den übrigen Konsulargerichtsbezirken mit dem 
Ablauf von vier Monaten nach dem Tage, an welchem das betreffende Stück 
des Reichsgesetzblattes (oder der preuss. Ges.Samml.) in Berlin ausgegeben 
worden ist, verbindliche Kraft 1). Dieselbe Vorschrift gilt auch für die deut- 
schen Schutzgebiete 5). Von dieser speziellen Vorschrift abgesehen, fehlt es 
an einer allgemeinen Regel, wann die verbindliche Kraft von Reichsgesetzen 
ausserhalb des Bundesgebiets anfängt, insbesondere von Gesetzen, welche den 
im Auslande lebenden Reichsangehörigen oder Reichsbeamten oder den zur 
Bemannung deutscher Seeschiffe gehörenden Personen etwas anbefehlen oder 
verbieten usw. Ist in derartigen Gesetzen der Anfangstermin ihrer Geltung 
nicht ausdrücklich angeordnet, so muss nach den Umständen ermessen wer- 
den, welche Zeit etwa erforderlich ist, damit das Stück des Gesetzbl. von 
Deutschland nach dem in Frage stehenden ausländischen Gebiete gelangen 
könne und diese Zeit der für das Bundesgebiet geltenden Frist hinzugerechnet 
werden. Endlich ist noch der Fall zu erwähnen, wenn das Gesetz einen be- 
1) Vgl. Lukas, Gesetzespublik. 8. 172. 
2) Beispiele dafür sind sehr zahlreich. Vgl. Staatsrecht des D. Reichs (5. Aufl.) 
IL S. 81 Note 4. 
3) Es kaun jedoch in einem Reichsgesetz den Einzelstaaten vorbehalten werden, 
schon vor dem reichsgesetzlichen Termin die Geltung des Reichsgesetzes in ihren Ge- 
bieten eintreten zu lassen oder den Anfangstermin der Geltung über den reichsgesetzl. 
Termin hinauszuschieben. Beispiele a. a. O. II S. 76. 
4) Konsulargerichtsbarkeitsges. v. 7. April 1900 $ 30 (RGBil. S. 219). 
5) Schutzgebietsgesetz voın 10. Sept. 1900 $ 2.
	        
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