8 16 Die Verordnungen des Reiches. 137
formelle Gesetzeskraft ist resolutiv bedingt. Die
letzteren lassen die unter Teilnahme der Volksvertretung erlassenen Rechts-
vorschriften unangetastet, sie halten sich innerhalb des von ihnen gezogenen
Rahmens und haben deshalb dauernde Geltung; sie dienen zur Ausfüh-
rung der Gesetze im Sinne von Detaillierung, Entwicklung, Entfaltung der
gesetzlichen Regeln !).
2. Es entsteht nun die Frage, ob der Erlass von Rechtsverordnungen
nach der Reichsverfassung überhaupt zulässig ist. Der Grundsatz,
dass Gesetze im materiellen Sinne (Rechtsvorschriften) im Wege der Gesetzge-
bung zu erlassen sind, istin der RV. als selbstverständlich vorausgesetzt; eben-
so wie in der Preuss. Verf.-Urk. Art. 62 und der Mehrzahl der ‚‚konstitu-
tionellen‘‘ Verfassungen ?). Während aber die Preuss. Verf.-Urk. im Art. 45
dem Könige den Erlass von Ausführungs-Verordnungen ohne Einschränkung
überträgt, hat die RV. keine entsprechende Bestimmung. Art. 7 Abs. 2
erteilt dem Bundesrat lediglich die Befugnis, ‚die zur Ausführung der Reichs-
gesetze erforderlichen allgemeinen Verwaltungs vorschriften und Ein-
richtungen‘ zu beschliessen, und Art. 17 überträgt dem Kaiser ‚die Ueber-
wschung der Ausführung der Reichsgesetze‘‘, aber nicht die Befugnis zum
Erlass von Ergänzungsgesetzen ®). Ebensowenig enthält die RV. eine Er-
mächtigung zum Erlass von Verordnungen mit interimistischer Gesetzeskraft,
durch welche reichsgesetzlich anerkannte Rechtssätze zeitweilig abgeändert
oder aufgehoben werden könnten. Nur insoweit nach Art. 68 der RV. der
Kaiser einen Teil des Bundesgebietes in Kriegszustand erklären darf, is
demselben die Befugnis eingeräumt, den gesetzlichen Rechtszustand nach
Vorschrift des Preuss. Ges. vom 4. Juni 1851 zeitweise abzuändern.
Wenn sonach die RV. weder den Erlass von Ausführungsverordnungen
noch den Erlass von Verordnungen mit interimistischer Gesetzeskraft für zu-
lässig erklärt und kein Organ des Reiches dazu ermächtigt, so ist es anderer-
seits ebenso unrichtig, dass die RV. den Erlass von Rechtsverordnungen ver-
boten oder für unzulässig erklärt habe, und dass die Sanktionierung von
Rechtsvorschriften auf einem anderen Wege als dem der Gesetzgebung
verfassungswidrig sei®). Der Gesetzgebung ist keine Schranke
auferlegt, dass sie nicht auch Anordnungen über die Aufstellung von Rechts-
vorschriften treffen dürfte. Ein Gesetz kann demnach, anstatt unmittelbar
— nn .
1) Der Ausdruck „Ausführungsverordnung“ wird aber auch in dem Sinne ver-
wendet, dass er die zur Vollziehung oder ITandhabung eines Gesetzes erforderlichen
Anordnungen bedeutet. Ausführungsverordnungen indiese m Sinne sind Verwaltungs-
verordnungen und haben mit der Regelung der Rechtsordnung nichts zu tun.
2) Dieser bisher in der gesamten staatsrechtl. Literatur allgemein als selbstver-
ständlich und zweifellos anerkannte Grundsatz ist angefochten worden von Arndt,
Verordnungsr. 8. 26 fg. 57 ff. 74 ff. u. im Archiv f.öff. R.I S. 512 fg. 534 fg. Gegen
ihn haben sich zahlreiche Schriftsteller erklärt, namentlich Seli gmanns 8. 115 fg.,
JellinekS.373fg. Hänel, Staatsrecht IS. 279 fg. Vgl. meine Ausführungen im
Staatsr. des Deutschen Reichs II 8. 89 fg. u. besonders Ansehütz, Die gegenwärti-
gen Theorien über den Begriff der gesetzgebenden Gewalt. Tüb. 1001, sowie die gründ-
lichen und überzeugenden Ausführungen von ITubrich in den 8. 114 zitierten Abh-
handlungen.
3) Vgl. jetzt auch die Erörterung Hänels, Studien TI 8. 67 ff. u. Staatsrecht
S. 321, u. v. JagemannS. 91.
4) Diese Theorie entwickelt v. Rönne, Staatsr. des Deutschen R. II 8. 13 £f.