Full text: Das öffentliche Recht der Gegenwart. Band I. Deutsches Reichsstaatsrecht. (1)

& 16 Die Verordnungen des Reiches. 139 
  
tritt ebenso wie bei der förmlichen Gesetzgebung der Unterschied zwischen 
der Feststellung des Inhalts und der Sanktion der Verordnung zutage. Die 
Herstellung einer Uebereinstimmung zwischen Kaiser und Bundesrat über den 
Inhalt der Verordnung ist die Vorbedingung zu ihrem Erlass; die Sanktion 
aber steht dem Kaiser zu. Die Beschlüsse des Bundesrates sind demnach, 
wenngleich sie unter Zustimmung der preussischen Vertreter gefasst sind, 
nicht rechtswirksam, solange der Kaiser dieselben nicht sanktioniert hat. 
Während der Kaiser rechtlich verpflichtet ist, ein vom Bundesrat ordnungs- 
mässig sanktioniertes Reichsgesetz auszufertigen, ist er völlig ungehindert, 
den Erlass der Verordnung nachträglich abzulehnen, obgleich die preussischen 
Stimmen im Bundesrate für Erteilung der Zustimmung abgegeben worden sind. 
c)Dem Reichskanzler odereineranderen Reichsbehörde. 
Dieser Fall hat die grösste Verwandtschaft mit der Delegation zugunsten 
des Kaisers. Denn der Reichskanzler und die übrigen Reichsbehörden sind 
Gehilfen des Kaisers, deren er sich bei der ihm zustehenden Regierungstätig- 
keit bedient. Man kann daher jede gesetzliche Anordnung, welche dem 
Reichskanzler oder einer anderen Reichsbehörde den Erlass einer Rechts- 
verordnung überträgt, auffassen als die Delegation des Verordnungsrechts 
zugunsten des Kaisers, mit der Massgabe, dass nicht der Kaiser selbst 
dieses Geschäft zu versehen braucht, sondern dass es für ihn der Reichs- 
kanzler oder eine andere zur Führung solcher Geschäfte konstituierte Behörde 
erledigen soll. Auch bei Verordnungen des Reichskanzlers kann die Zustim- 
mung des Bundesrates oder eines Bundesrats-Ausschusses zum Inhalt der 
Verordnung gesetzlich für erforderlich erklärt werden. Ist die gesetzliche Er- 
mächtigung dem Reichskanzler erteilt, so kann die Verordnung auch von einem 
Stellvertreter desselben nach Massgabe des Reichsgesetzes vom 17. März 1878 
erlassen werden; dagegen ist die Subdelegation an einen anderen Reichs- 
beamten der Regel nach unzulässig. Von anderen Reichsbeamten, welche 
zum Erlass von Rechtsvorschriften gesetzlich ermächtigt worden sind, sind 
zu erwähnen die Reichskonsuln !) und die Marinestationschefs 2), sowie die 
Beamten in der Verwaltung des Reichslandes und der Schutzgebiete (siehe 
unten $ 24 und $ 25). 
d) Den Einzelstaaten. Die denselben delegierte Befugnis, Aus- 
führungs-Verordnungen zu den Reichsgesetzen zu erlassen, ist von der den 
Einzelstaaten zustehenden Autonomie zu unterscheiden. Bei den autonomi- 
schen Anordnungen übt der Staat seine eigene Gesetzgebungsgewalt aus; 
bei dem Erlass von Avsführungsverordnungen eine fremde, ihm nur delegierte, 
nämlich die des Reiches. Die Kraft dieser Verordnungen wurzelt in dem 
Reichsgesetz; sie sind, obgleich von dem Einzelstaat erlassen, ein Bestandteil 
der Reichsgesetzgebung im materiellen Wortsinne, und deshalb gehen sie den 
Landesgesetzen der Einzelstaaten vor. Die autonomischen Gesetzgebungs- 
akte der Einzelstaaten normieren das Gebiet, welches von der Reichsgesetz- 
gebung freigelassen wird; sie sind Anordnungen praeter legem imperii. Die 
  
1) Konsulargerichtsbarkeitsgesetz v. 10. Juli 1879 $ 4. (v. 7. April 1900 $ 51.) 
2) Reichsges. v. 19. Juni 1883 (RGBil. 8. 105).
	        
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