8 17 Reichsgesetzgebung und Landesgesetzgebung. 145
Praktische Schwierigkeiten bietet dagegen die Frage, inwieweit Landes-
gesetze zur Ergänzung der Reichsgesetze statthaft sind. Hier ist zu
unterscheiden, ob das Reichsgesetz eine Materie vollständig regeln wollte
oder nicht. Ist dies der Fall, so ist durch ein solches Gesetz die von ihm nor-
mierte Rechtsmaterie der einzelstaatlichen Autonomie entrückt, und zwar
auch dann, wenn das Reichsgesetz tatsächlich keine vollständige Regelung
enthält. Die notwendigen Ergänzungen sind alsdann den höheren allgemeinen
Rechtsprinzipien zu entnehmen, denen die in dem Reichsgesetz sanktionierten
Sätze sich logisch unterordnen. Im einzelnen Falle kann aber die Entschei-
dung der Frage allerdings sehr schwierig sein, ob ein Reichsgesetz eine Rechts-
materie in vollständiger und abschliessender Weise regeln oder Ergänzungen
durch die Landesgesetzgebung gestatten will, und ob ein von einem Landes-
gesetz geregelter Punkt zu dem von der Reichsgesetzgebung okkupierten Ge-
biete gehört oder nicht !). Die authentische und allgemein massgebende Ent-
scheidung eines solchen Zweifels kann nur durch ein Reichsgesetz erfolgen,
welches den Sinn und die Tragweite des früheren Reichsgesetzes deklariert;
solange dies nicht ergeht, ist in jedem einzelnen Falle von der zuständigen
Behörde zu beurteilen, ob das Reichsgesetz Ergänzungen durch das Landes-
recht gestattet oder ausschliesst. Sehr zahlreiche Reichsgesetze verweisen
ausdrücklich auf die Landesgesetze als Ergänzung der reichsgesetzl. Bestim-
mungen oder bedienen sich der Formel, dass gewisse Vorschriften durch das
Reichsgesetz ‚unberührt‘ bleiben. Auch kann für die Gesetzesauslegung ein
Anhaltspunkt darin gegeben sein, ob das Reichsgesetz alle eine gewisse Ma-
terie betreffenden, in den einzelnen Bundesstaaten geltenden Rechtsvorschrif-
ten, oder nur die ihm ‚„entgegenstehenden‘‘ oder ‚„widersprechenden‘“ auf-
hebt, also die „nicht widersprechenden‘“ fortgelten. lässt ?).
Von den Landesgesetzen zur Ergänzung der Reichsgesetze sind die soge-
nannten Ausführungsgesetze zu unterscheiden. Man pflegt mit
diesem Namen Landesgesetze zu bezeichnen, welche gewisse von den Reichs-
gesetzen nicht unmittelbar normierte Partien des Landesrechts in der
Art umgestalten, dass die Ausführung der Reichsgesetze erleichtert und er-
möglicht und der gesamte Rechtszustand des Einzelstaats in harmonischem
Zusammenhang erhalten wird. Ein besonders wichtiger hierher gehörender
Fall ist der, wenn das Reichsgesetz gewisse staatliche Einrichtungen vor-
—
1) Das Reichsgesetz kann auch die Schranken und Grenzen festsetzen, innerhalb
deren sich die Autonomie der Einzelstaaten zu bewegen hat, wie z. B. $ 5 des Einf.-
Ges. zum Strafgesetzb. Alle einzelstaatl. Vorschriften, welche diese Schranken verletzen,
sind dann ungültig. Die entgegengesetzte Ansicht vertritt Heinze im Gerichtssaal
Bd. XXX S. 568 ff., indem er das „Unterordnungsverhältnis‘‘ der Landesgesetzgebung
zur Reichsgesetzgebung in Abrede stellt. Gegen denselben erklärt sich auch v. M ar-
titza a. O. S. 56.
2) Zweckmässiger wäre es, wenn die Reichsgesetze dies direkt aussprächen, statt
es nur mit dem argumento e contrario vermuten zu lassen; d. h. wenn sie statt der völlig
selbstverständlichen und deshalb ganz überflüssigen Bestimmung, dass die entgegen-
stehenden Anordnungen der Landesgesetze aufgehoben werden, die entgegengesetzte
Formulierung enthielten, dass die Landesgesetze in Kraft b leibe n, soweit sie
mit den Bestimmungen des Reichsgesetzes nicht in Widerspruch stehen.
Laband, Reichsstaatsrecht. 6. Aufl. 10