Full text: Das öffentliche Recht der Gegenwart. Band I. Deutsches Reichsstaatsrecht. (1)

180 Fünfter Abschnitt: Die Funktionen des Reiches. g 21 
  
c) Soweit das Reich eine fakultative Gesetzgebungskompetenz hat, was 
für die Mehrzahl der im Art. 4 der Reichsverf. aufgezählten Gegenstände 
gilt, besteht die Kompetenz der Einzelstasten zum Abschluss von Staats- 
verträgen fort, solange das Reich von seiner Kompetenz noch keinen Gebrauch 
gemacht hat, sowie, wenn das Reich diese Materie nicht in abschliessender 
und vollständiger Weise geregelt hat, in demselben Umfange, in welchem die 
Autonomie der Einzelstaaten zur Ergänzung der Reichsgesetzgebung fort- 
dauert. Aber auch soweit das Reich von seiner Gesetzgebungsbefugnis noch 
keinen Gebrauch gemacht hat, kann der Einzelstaat durch Staatsverträge 
dem Rechte des Reiches nicht präjudizieren. Die auf Grund von Staatsver- 
trägen von den Einzelstasten erlassenen Vorschriften verlieren ipso jure ihre 
Geltung, sobald das Reich durch Gesetz eine andere Vorschrift sanktioniert. 
Es ist dies eine notwendige Konsequenz des Art. 2 der Reichsverfassung !). 
d) Hinsichtlich derjenigen Angelegenheiten, welche das Reich einheit- 
lich geregelt und dadurch der Gesetzgebung der Einzelstaaten entzogen hat, 
hinsichtlich deren aber den Einzelstaaten Verwaltungsbefugnisse in grösserem 
oder geringerem Umfange verblieben sind, können die Einzelstaaten Verträge 
unter einander oder mit dem Reiche eingeben. Hierhin gehören die zahlrei- 
chen Militärkonventionen, auf welche Art. 66 der Reichsverf. Bezug nimmt, 
ferner Verträge über die Post- und Telegraphen-Verwaltung (Reichsverf. 
Art. 50 Abs. 6), sodann Verträge über die Verwaltung der Zölle und Ver- 
brauchsabgaben (RV. Art. 36 Abs. 1, 40); endlich Verträge über die Aus- 
übung der ordentlichen streitigen Gerichtsbarkeit. 
e) Die Angelegenheiten, hinsichtlich deren nach der Reichsverf, die 
Kompetenz des Reichs zur Gesetzgebung nicht anerkannt ist, unterliegen 
auch der ausschliesslichen Vertragskompetenz der Einzelstasten. Dahin ge- 
hören z. B. Wegesachen, Gemeindeangelegenheiten, Kirchen- und Schul- 
sachen, direkte Steuern, Forst- und Bergwerksverwaltung, Gefängniswesen 
usw. Aber diese Befugnis ist keine souveräne, sondern eine beschränkte. 
Die Einzelstaaten können keine Staatsverträge abschliessen, durch deren Er- 
füllung sie sich mit den Anordnungen der Reichsgesetze oder den gültig er- 
lassenen Verordnungen des Reichs in Widerspruch setzen würden. Es lässt 
sich kein Staatsvertrag über irgend welchen Gegenstand denken, den ein 
deutscher Einzelstaat abschliessen könnte, ohne an den Reichsgesetzen über 
Strafrecht, Prozess, Privatrecht, Militär-, Zoll-, Post-, Münz-, Gewerbewesen 
usw. enggezogene Schranken zu finden. 
2. Die Einzelstaaten sind ausser stande, die Erfüllung der von ihnen 
1) Vgl. hierzu Pröbst S. 252fg. und die Entscheidung des Reichsgerichts in 
Strafsachen (v. 3. Juni 1881) Bd. IV S. 274. Derselbe Grundsatz greift Platz, wenn das 
Reich über einen Gegenstand einen Staatsvertrag abschliesst, hinsichtlich der über 
denselben Gegenstand mit demselben auswärtigen Staate geschlossenen Verträge der 
Einzelstaaten. Dies ist ausdrücklich anerkannt in dem Vertrage mit Oesterreich-Ungarn 
vom 25. Febr. 1850 (RGBiI. 1881 8. 7). Eine abweichende Ansicht entwickeltMünch, 
Zwei baulische Staatsverträge. Hirths Annalen 1907 S. 161 ff. 266 ff. Selbstverständlich 
kann das Reichsgesetz aber Staatsverträge der Einzelstaaten aufrecht erhalten. Dies ist 
namentlich geschehen durch Art. 56 des Einf.-Gesetzes zum BGB. Vgl. Motive zum 
BGB. Bd. IS. 2.
	        
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