$ 22 Bundesgiiel und Reichsland. 1s5
es ungerechtfertigt und unbillig gewesen, sie von der Vertretung im Reichs-
tage auszuschliessen. Die Reichslandseigenschaft wurde dadurch aber nicht
geändert und der Unterschied zwischen dem Reichsland und den Bundes-
stasten nicht beseitigt. Die Einführung der RV. hatte die weitere Folge,
dass wenngleich die gesamte Staatsgewalt über Elsass-Lothringen ganz und
ungeteilt dem Reich verblieb, doch objektiv eine Unterscheidung ein-
trat. Soweit die verfassungsmässige Zuständigkeit des Reichs sich erstreckte,
fand die RV. entsprechende Anwendung; für die nach der RV. den Einzel-
staaten zustehenden Rechte und Pflichten bedurfte ihre Ausübung einer
besonderen Regelung. Daraus ergab sich die Unterscheidung zwischen Reichs-
und Landesangelegenheiten, Reichs- und Landesgesetzen, Reichs- und Landes-
behörden und Beamten, Reichs- und Landesetats usw., obgleich es nach dem
Begriff des ‚„Reichslandes‘““ keine Landesangelogenheiten gab, welche nicht
Reichsangelegenheiten waren.
In dieser Unterscheidung lag der Keim zu einer fortwährenden A b-
schwächung der aus dem Reichslandsbegriff sich ergebenden Folgen
und zu einer Annäherung der rechtlichen Stellung des Reichslandes an die
der Bundesstaaten.
1.In finanzieller Beziehung wurde das Reichsland seit der
Vereinigung mit dem Reich den Bundesstaaten vollkommen gleichgestellt.
Die Landeskasse und das Landesvermögen sind von dem Reichsfiskus und
dem Reichsvermögen getrennt; das Reichsgesetz über das Verwaltungsver-
mögen vom 25. Mai 1873 wurde in Elsass-Lothringen eingeführt !),. Das
Reichsland ist ein selbständiges vermögensrechtliches Rechtssubjekt und
steht in allen Beziehungen zum Reichsfiskus in ganz demselben Verhältnis
wie der Landesfiskus eines Bundesstaates. Für die staatsrechtliche Natur
des Reichslandes ist die finanzielle Sonderwirtschaft und die selbständige
Vermögensfähigkeit nicht von massgebender Bedeutung, da ja auch Provin-
zen, Kreise und Gemeinden eine selbständige Finanzwirtschaft haben; aber
das Reichsland trat doch durch die besondere Finanzwirtschaft in einen
Gegensatz zum Reich, welcher dem Gegensatz zwischen Reich und Bundes-
glied sehr ähnlich war und der Verwaltung des Reichslands das Gepräge
einer der Reichsverwaltung gegenüberstehenden Staatsverwaltung verlieh.
2.Der Reichskanzler als der Minister des Kaisers in allen Reichs-
angelegenheiten war auch der Minister für alle Angelegenheiten des Reichs-
landes ohne Unterschied, ob sie nach der RV. zur Zuständigkeit des Reichs
gehörten oder nicht. Das Vereinigungsgesetz $ 4 hat dies in wörtlicher An-
lehnung an Art. 17 der RV. zum Ausdruck gebracht und dem Reichskanzler
wurde zur Erledigung dieser Geschäfte ein Reichsamt für Elsass-Lothringen
als oberste Verwaltungsbehörde beigegeben ?2). Das Verwaltungsgesetz vom
30. Dezember 1871 $ 6 ermächtigte aber den Reichskanzler dem Ober-
1) Durch Ges. v. 8. Dez. 1873 (Gesetzbl. S. 387).
2) Das Amt war ursprünglich die dritte Abteilung des Reichskanzleramts; seit
dem 1. Januar 1877 wurde sie vom Reichskanzleramt losgelöst und zum ‚„Reichskanzler-
amt für Elsaß-Lothringen‘‘ konstituiert; ebenso die vierte Abteilung, welcher die Ge-
schäfte der Justizverwaltung für Elsass-Lothringen oblagen, zum Reichsjustizamt.