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Sechster Abschnitt: Das Reichsland und die Schutzgebiete. 8 23
Hinzutritt dieser Stimmen die Mehrheit oder den Stichentscheid erlangen
würde. Andererseits werden sie auch nicht gezählt, wenn 14 Stimmen im
Bundesrat ein Veto gegen Verfassungsänderungen ausüben. Sie werden also
nur gezählt, wenn es ziemlich gleichgültig ist, wie sie abgegeben werden.
Dagegen kann die Beteiligung elsass-lothringischer Bevollmächtigter an den
Bundesrats-Ausschüssen von praktischer Bedeutung sein.
V. Was nun die Frage anlangt, ob durch das Gesetz vom 31. Mai 1911
Elsass-Lothringen zum Bundesstaat gestaltet worden oder Reichsland ge-
blieben ist, so ist sie im letzteron Sinne zu beantworten. Entscheidend dafür
ist, ob eine selbständige, von der Gewalt des Reichs verschiedene
Staatsgewalt errichtet worden ist, und dies ist nicht geschehen. Der Kaiser
übt die Staatsgewalt aus, aber als Organ des Reichs, nicht als Landesherr.
In den Motiven des Gesetzentw. S. 9 und in einer Erklärung des Staats-
sekretärs des Innern (Kommissionsber. S. 10) wird ausdrücklich und mit
klaren Worten festgestellt, dass hinsichtlich der staatsrechtlichen Stellung
des Kaisers an dem bisherigen Recht nichts geändert wird; mithin ist auch
die Reichslandseigenschaft unverändert geblieben, wenngleich äusserlich das
Reichsland den Bundesstaaten gleich behandelt wird. Dies findet auch einen
prägnanten Ausdruck in dem Schlusssatz des Verfassungsgesetzes, dass es
nur durch Reichsgesetz aufgehoben oder abgeändert werden kann.
Elsass-Lothringen hat also nicht die Befugnis, seine eigene Verfassung zu
bestimmen; sie ist ihm vom Reich gegeben und kann ihm vom Reich genom-
men werden; das Reichsland mit der ihm verliehenen Verfassung ist noch
jetzt eine Einrichtung des Reichs. Auch in den im Art. 1 der RV. enthaltenen
Katalog der Bundesstaaten ist Elsass-Lothringen nicht aufgenommen; seine-
Zugehörigkeit zum Reich beruht nicht auf einem Verfassungsbündnis, son-
dern auf dem Vereinigungsgesetz v. 9. Juni 1871, einem einseitigen
Akt des Reichs.
$ 23. Die Verfassung des Reichslands. Sie beruht im wesentlichen, aber
nicht ausschliesslich auf dem Ges. v. 31. Mai 1911 Art. II; insbesondere
sind das Verwaltungsgesetz v. 30. Dez. 1871 (Gesetzbl. f. E.-L. 1872 S. 49)
und das Ges. v. 4. Juli 1879 in Geltung geblieben, soweit sie nicht durch
spätere Gesetze abgeändert worden sind.
1. Der Kaiser hat alle Machtbefugnisse, welche nach dem in Elsass-
Lothringen geltenden Rechte dem Staatsoberhaupte zukommen, aber, wie
bereits bemerkt, nicht als Landesherr sondern als das Organ des Reichs.
Es gibt keine elsass-lothringische Krone oder Dynastie; das Reichsland
steht nicht in Personalunion mit Preussen ; der Kaiser übt alle Akte der Staats-
gewalt ‚im Namen des Reichs“ aus.
2. Der Bundesrat ist bei der Gesetzgebung und zwar bei allen in
der Form der Gesetzgebung ergehenden Akten ohne Unterschied ihres In-
halts durch den Landtag ersetzt; dagegen enthält das Ges. v. 31. Mai keine
allgemeine Vorschrift, dass, wo in Gesetzen oder Verordnungen vom Bundes-
rate die Rede ist, ein Organ des Landes an seine Stelle tritt; diese Anordnungen
behalten daher ihre Geltung, bis sie durch besondere Gesetze aufgehoben