Full text: Das öffentliche Recht der Gegenwart. Band I. Deutsches Reichsstaatsrecht. (1)

2308 Sechster Abschnitt: Das Reichsland und die Schutzgebiete. 8 25 
  
  
  
VI. DasVerordnungsrecht!). 1.DemKaiserstehtin Aus- 
übung der Schutzgewalt grundsätzlich das Verordnungsrecht zu, soweit es 
nicht durch besondere Anordnungen eines Reichsgesetzes ausgeschlossen 
oder durch die formelle Gesetzeskraft der für die Schutzgebiete erlassenen 
Reichsgesetze beschränkt ist. Hinsichtlich der formellen Erfordernisse 
(Ausfertigung, Gegenzeichnung, Verkündigung) gelten dieselben Regeln, 
welche für kaiserl. Verordnungen überhaupt gelten. Der Kaiser kann das 
Verordnungsrecht Reichsbehörden zur Ausübung delegieren. 
2. Der Bundesrat hat ein Verordnungsrecht nur insoweit, als ihm 
ein solches nach den in den Schutzgebieten geltenden Reichsgesetzen zusteht; 
nach Massgabe dieser Gesetze kann auch der Kaiser beim Erlass von Verord- 
nungen an die Zustimmung des Bundesrats gebunden sein. Art. 7 Ziff. 2 
der RV. ist auf die Schutzgebiete nicht anwendbar. 
3. Der Reichskanzler. Seine Verordnungsgewalt beruht auf drei- 
facher Grundlage. Verwaltungs verordnungen (Dienstbefehle) für die 
ihm untergeordneten Schutzgebietsbehörden kann er als Minister des Kaisers 
kraft seiner Dienstgewalt erlassen, ohne dass er einer besonderen Ermächti- 
gung bedarf. Rechtsverordnungenkann der Reichskanzler erlassen, 
insoweit ihm der Kaiser die Befugnis dazu delegiert hat ?). Endlich ist dem 
Reichskanzler ein selbständiges Verordnungsrecht übertragen, durch das 
Schutzgebietsges. $ 15, namentlich hinsichtlich der polizeilichen und die 
Verwaltung betreffenden Vorschriften; die Verkündigung erfolgt in den 
Amtsblättern der einzelnen Schutzgebiete. Da die dem Reichskanzler oblie- 
genden Funktionen unter seiner Verantwortlichkeit vom Kolonialamt 
ausgeübt werden, so gilt dies auch vom Verordnungsrecht. 
4. Den Gouverneuren steht zunächst kraft ihres Amtes der Er- 
lass von Verwaltungsverordnungen (Dienstbefehlen) an die ihnen unterstellten 
Behörden innerhalb ihrer Zuständigkeit zu; ferner kann ihnen die Befugnis 
zum Erlass von Verordnungen sowohl vom Kaiser als vom Reichskanzler 
(Kolonialamt) übertragen werden ?®). 
VII Die Organisation der Verwaltung. 
1. An der Spitze jedes Schutzgebietes steht ein kaiserl. Kommissar, 
welcher den Titel „Gouverneur“ führt. Er wird zu den Landesbeamten 
der Schutzgebiete gezählt; ihm sind alle Zivilbehörden ihres Schutzgebietes 
und in den afrikanischen Schutzgebieten auch die Schutztruppen unter- 
geordnet. Er hat die Leitung der gesamten Schutzgebietsverwaltung und das 
ihm delegierte Verordnungsrecht, er ist aber seinerseits dem Reichskanzler 
(Kolonialamt) untergeordnet. Er kann jederzeit durch Verf. des Kaisers 
über das Telegraphenwesen v. 15. Juni 1906 (RGBi. S. 843); v. 3. Juni 1908 (RGBi. 
S. 397) über das Verordnungsrecht; v 16 Jan. 1909 (RGBi. S. 270) Handel mit süd- 
westafrikanischen Diamanten. Vgl. Seelbach, Grundzüge der Rechtspflege in 
den d. Kolonien. 1904. Schlimm, Das Grundstücksrecht in den deutschen Kolo- 
nien. Leipzig 1905 und Köbner 8. 1122 ff. 
1) Backhaus, Das Verordnungsr. in den Kolonien. Bremen 1908. Sassen, 
Gesetzgeb.- und Verordnungsr. Tüb. 1909. 
2) Vgl. die Kaiserl. Verordn. v. 3. Juni 1908 (RGBl. S. 397) $ 1. 
3) Schutzgebietsges. $ 15 Abs. 3. V. v. 3. Juni 1908 $ 2. Verf. des Reichskanzlers 
v. 16. März 1909 für Kamerun (Kolonialbl. S. 361).
	        
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