Full text: Das öffentliche Recht der Gegenwart. Band I. Deutsches Reichsstaatsrecht. (1)

g 27 Die öffentlichen Verkehrsanstalten. B. Das Eisenbahnwesen, 253 
  
der Reichsverf. (!) am 26. Oktober 1899 eine neue Verkehrsord- 
nung für die Eisenbahnen Deutschlands erlassen (RGBl. S. 557), welche 
jedoch für die bayerischen Eisenbahnen nicht gilt, während in Bayern eine 
besondere, inhaltlich übereinstimmende Verkehrsordnung am 16. Dez. 1899 
erlassen worden ist !). In neuer Fassung ist die Verkehrsordnung am 17. Dez. 
1908 (RGBl. 1909 S. 93) verkündigt worden. 
2. Der Art. 45 der RV. enthält ferner den Satz: „Das Reich wird na- 
mentlich dahin wirken, dass die möglichste Gleichmässigkeit und 
Herabsetzung der Tarife erzielt, insbesondere, dass bei grösseren Ent- 
fernungen für den Transport von Kohlen, Holz, Erz, Steinen, Salz, Roheisen, 
Düngungsmitteln und ähnlichen Gegenständen ein dem Bedürfnis der Land- 
wirtschaft und Industrie entsprechender ermässigter Tarif, und zwar zunächst 
tunlichst der Einpfennig-Tarif eingeführt werde.“ Diese Bestimmung ist 
der vorangehenden völlig gleichartig. Auch hier schliesst die Fassung des 
Artikels die Annahme aus, dass das Reich die Befugnis habe, den Eisenbahn- 
verwaltungen, sei es im allgemeinen, sei es für einzelne Klassen von Trans- 
portgegenständen, Tarife vorzuschreiben; durch ein auf Grund 
des Art. 4 Ziff. 8 ergehendes Eisenbahngesetz könnte zwar dem Bundes- 
rat oder dem Kaiser eine solche Befugnis beigelegt werden, auf Grund der 
RV. und der gegenwärtigen Gesetzgebung besteht sie dagegen nicht. So 
wie es nun aber tatsächlich gelungen ist, ein Einverständnis der Bundes- 
regierungen über das Betriebsreglement zu erreichen, so ist es auch geglückt, 
eine Verständigung der deutschen Staats- und Privat-Eisenbahnverwaltungen 
über ein gemeinsames Gütertarifsystem zu erzielen, das freilich nicht mit 
der ‚„möglichsten Herabsetzung‘, von welcher Art. 45 der RV. spricht, son- 
dern mit einer durchschnittlichen Erhöhung der Tarife verbunden war. 
Der Bundesrat hat in seiner Sitzung vom 14. Dez. 1876 beschlossen, dass 
gegen dessen Einführung unter gewissen Einschränkungen vom Standpunkte 
des Reichs nichts zu erinnern sei. Die definitive Festsetzung der neuen 
Gütertarife wurde auf der Generaltarif-Konferenz der deutschen Eisenbahn- 
verwaltungen zu Berlin im Februar 1877 vereinbart. Die Geltung des Tarif- 
systems beruht daher nicht auf der Autorität des Reiches oder dem Beschluss 
1) Vgl. über die Streitfrage, ob die neue Verkehrsordnung rechtsgültig erlassen 
worden ist, mein Staatsr. des D. Reichs Bd. III S. 122 ff. Unter den Gründen, welche 
für die Rechtsgültigkeit geltend gemacht worden sind, kommt allein in Betracht, dass 
das Handelsgesetzb. stillschweigend den Bundesrat zum Erlass der Verkehrs- 
ordn. ermächtigt habe. Vgl. Grossmann, Zeitung des Vereins deutscher Eisenb.- 
Verwaltungen 1901 S. 549 ff. u. Mode, Deutsche Jur.-Zeit. 1904 Sp. 1085 fg. Die 
Annahme eines stillschweigenden Gesetzgebungsaktes ist aber stets mit der Gefahr 
verbunden, das Gesetz nicht auszulegen, sondern ihm etwas unterzulegen. Der Bun- 
desrat selbst hat auch seine Befugnis nicht auf das HGB., sondern auf Art. 45 RV. 
gestützt, was freilich für die Rechtsgültigkeit der Verordn. nicht in Betracht kommt. 
Würde die Ermächtigung des Bundesrates aber auf dem HGB. beruhen, so müssten 
die privatrechtlichen Bestimmungen der VerkO. auch für Bayern gelten; die Beschrän- 
kung ihrer Geltung auf die nichtbayrischen Eisenbahnen kann nur durch Art. 45 ge- 
rechtfertigt werden. Das Reichsgericht nimmt freilich an der mangelnden Zuständigkeit 
des Bundesrates keinen Anstoss. — Es würde sich empfchlen, die zahlreichen privatrecht- 
lichen und die rein reglementarischen und polizeilichen Anordnungen der Verkehrsordnung 
voneinander zu trennen und die ersteren in der Form des Gesetzes zu sanktionieren, 
während die letzteren dazu_ganz ungeeignet sind und fortwährend Abänderungen und 
Ergänzungen erfordern.
	        
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