294
Siebenter Abschnitt: Die einzelnen Zweige der Verwaltung. $ 83
strassen im Interesse der Landesverteidigung und des allgemeinen Verkehrs.
RV. Art. 4 Ziff. 8. Hiervon hat das Reich Gebrauch gemacht durch Her-
stellung des Nordostseekanals. RG. v. 16. März 1886 (RGBl. 8. 58) u. V. v.
17. Juli 1886 (S. 233).
$ 33. Die Medizinal- und Veterinärpolizei. Die Zuständigkeit des Reichs
zur Gesetzgebung und Beaufsichtigung erstreckt sich nach Art. 4 Ziff. 15 der
RV. auf ‚„Massregeln der Medizinal- und Veterinärpolizei“. Die Bearbeitung
dieser Angelegenheiten gehört zum Geschäftsbereich des Reichsamtes des
Innern; technische Fragen werden vom Gesundheitsamt bearbeitet.
1. Die Medizinalpolizeit). Die Rücksicht auf die Verhütung
oder Beseitigung von Krankheiten ist ein Gesichtspunkt, welcher sich durch die
gesamte Gesetzgebung des Reichs hindurchzieht und für fast alle Verwal-
tungen in grösserem oder geringerem Grade Bedeutung hat; eine allgemeine
Zuständigkeit des Reichs zur Gesetzgebung und Beaufsichtigung von Mass-
regeln der Gesundheitspflege würde daher fast alle Verwaltungen und Ein-
richtungen der Einzelstaaten unter diesem Gesichtspunkt der Einwirkung der
Reichsorgane unterwerfen. Der Begriff der Medizinalpolizei im Sinne des
Art. 4 der RV. mıuss daher viel enger begrenzt werden; es sind darunter nur
solche Massregeln zu verstehen, welche ausschliesslich dem Zweck
dienen, den Ausbruch oder die Verbreitung von Krankheiten zu verhüten
und welche nicht einen Teil einer anderen staatlichen Gesetzgebung oder
Einrichtung bilden. Es scheiden daher aus die Vorschriften der Gewerbeord-
nung, der Versicherungsgesetze, der Seemannsordnung, des Strafgesetzbuchs
usw. Auf dem Gebiet der Medizinalpolizei im engeren und eigentlichen Sinne
hat sich das Reich bisher eine grosse Selbstbeschränkung auferlegt und die
Selbstverwaltung der Einzelstaaten völlig unberührt gelassen. Da-
gegen hat das Reich einige gesetzliche Vorschriften erlassen und
mehrere Staatsverträge abgeschlossen.
1. Das Impfgesetz vom 8. April 1874 (RGBl. S. 31) ?) führt den
Impfzwang ein. Jedes Kind soll in der Regel zweimal, im ersten und im
zwölften Lebensjahr, geimpft werden. Verantwortlich für die Vornahme der
Impfungen und die Beibringung der Impfscheine sind die Eltern, Pflege-
eltern, Vormünder und die Vorsteher derjenigen Schulen, deren Zöglinge
impfpflichtig sind. Ausser den Impfärzten sind ausschliesslich approbierte
Aerzte befugt, Impfungen vorzunehmen ?). Die Einzelstaaten sind verpflichtet,
Impfbezirke zu bilden, öffentliche Impfärzte zu bestellen, Impfinstitute zur
Beschaffung und Erzeugung von Schutzpockenlymphe einzurichten, von
denen die Lymphe an die öffentlichen Impfärzte unentgeltlich abzugeben
1) Wiener, JITandb. der Medizinalgesetzgebung des D. Reichs und seiner Einzel-
staaten, 2 Bde., Stuttg. 1883 ff. Guttstadt, Deutschlands Gesundheitswesen,
2 Bde., Leipz. 1896; Pistor, Das Gesundheitswesen in Preussen nach dem Reichs-
und Landesrecht. Berlin 1890. Meyer-Dochow $ 75ff.
2) Ausgaben des Gesetzes mit Erläuterungen von Kranz u Weber (Nördl.
1875): Jacobi (Berl. 1875); Bach (Dresd. 1888); Martini (Teipz. 1894) und na-
mentlich Rapmund (Berl. 1889). Vel. ferner Jolly in v. Stengels Wörterb. I
S. 6070ff. Stenglein, Strafr. Nebengesetze 8. 219 ff.
3) Wer unbefugt Impfungen vornimmt, wird mit Geldstrafe bis zu 150 Mk. oder
init Iaft bis zu lt Tagen bestraft (Impfges. $ 16).