Full text: Das öffentliche Recht der Gegenwart. Band I. Deutsches Reichsstaatsrecht. (1)

$ 34 Die Arbeiterversorgung. V. Die Invaliditäts- u. Hinterbliebenenversicherung. 319 
  
H.Fürsorge des Reichsgesetzes scheint dem ersten Eindruck nach von einem 
durch privatrechtlichen Vertrag begründeten Recht auf eine Leibrente oder 
Pension nicht wesentlich verschieden zu sein, indem er von der regelmässigen 
Entrichtung gewisser Beiträge während einer bestimmten Zeit abhängig ist. 
Allein dessenungeachtet würde man die wesentliche Eigentünlichkeit 
des Fürsorgeanspruchs verkennen, wenn man ihn den privatrechtlichen Leib- 
rentenverträgen einreihen wollte. Denn es ist unmöglich, den Anspruch auf 
die Rente lediglich durch pekuniäre Leistungen (Kapitaleinzahlungen, 
Voraus- oder Nachzahlung der Beiträge) zu erwerben; die wesentliche 
Voraussetzung ist vielmehr die Teilnahme des Berechtigten an der produk- 
tiven nationalen Arbeit. Es stehen sich also in der Tat nicht bloss zwei pe- 
kuniäre Leistungen gegenüber, sondern auf der einen Seite die getreue Er- 
füllung eines Lebensberufs, ein der nationalen Gesamtheit geleisteter Dienst, 
und auf der anderen Seite eine Fürsorge der Gesamtheit für die in diesem 
wirtschaftlichen Dienst erwerbsunfähig gewordenen Personen. Der Arbeiter 
erhält infolge des Reichszuschusses eine höhere Rente als die dem Kapi- 
talwert seiner aufgesammelten Beiträge entsprechende; und zufolge der Ueber- 
gangsbestimmungen !) wurde die Zeit vor dem Inkrafttreten des Gesetzes, 
für welche Beiträge überhaupt nicht geleistet worden sind, auf die Wartezeit 
angerechnet. Das Reich erkennt die Fürsorge für die erwerbsunfähigen und 
altersschwachen Arbeiter als eine auf politischen Gründen beruhende, 
selbständige Staatsaufgabe, nicht als eine Gegenleistung für die eingezahlten 
Beiträge an und erhebt diese nur, um diese Aufgabe ohne unerträgliche 
Ueberbürdung der anderen Berufsstände erfüllen zu können. Dieser Charakter 
der Invaliditäts- und Hinterbl.Versicherung kommt dadurch besonders 
deutlich zum Ausdruck, dass für den einzelnen nicht das persönliche 
individuelle Risiko massgebend ist, sondern allgemein gül- 
tige Ansätze für die Beitragsleistung, sowie für die Höhe der Rente gel- 
ten. Das Invalidenversicherungsgesetz von 1899 und die RVO. haben dieses 
sozialpolitische Prinzip in noch höherem Grade wie das ursprüngliche Gesetz 
durchgeführt. 
2. Versicherungspflichtig sind dieselben Personen, welche 
zur Krankenversicherung verpflichtet sind, mit Ausnahme der Hausgewerbe- 
treibenden, also Arbeiter, Gehilfen, Gesellen, Lehrlinge oder Dienstboten, welche 
gegen Entgelt beschäftigt werden, sobald sie das 16. Lebensjahr vollendet 
haben; ferner Betriebsbeamte, Werkmeister und andere Angestellte in ähnlich 
gehobener Stellung, wenn diese Beschäftigung ihren Hauptberuf bildet; sodann 
Handlungsgehilfen und Handlungslehrlinge, Gehilfen und Lehrlinge in Apo- 
theken, Bühnen- und Orchestermitglieder ohne Rücksicht auf den Kunstwert 
der Leistung, sowie Lehrer und Erzieher; endlich die Personen der Schiffs- 
besatzung von deutschen Seeschiffen und Fahrzeugen der Binnenschiffahrt. 
taren zu dem Gesetz v. 13. Juli 1899 (RGBl. 8.393 ff.) sind hervorzuheben die von 
v. Woedtke, Landmann u. Rasp, Piloty, Hoffmann. Alle diese Kommentare sind durch 
die RVO. zum Teil veraltet. 
1) Des ursprünglichen Gesetzes von 1889 ($$ 156, 157); sie sind jetzt erledigt. Vgl. 
jedoch Ges. v. 13. Juli 1899 $ 189 und KEinf.Ges. z. RVO. Art. 64 fe.
	        
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