$ 35 Die Gerichtsbarkeit. 3393
zustandes die Kriegsgerichte und Standrechte und im Falle eines Krieges
die Prisengerichte hinzukommen können; es hat ferner besondere Gerichte
zugelassen, nämlich die auf Staatsverträgen beruhenden Rheinschiffahrts-
und Elbzollgerichte, agrarische Gerichte, Gemeindegerichte und Gewerbe-
gerichte und Kaufmannsgerichte!). Die reichsgesetzliche Bestellung
besonderer Gerichte bedeutet die Schaffung eines singulären oder speziellen
Gerichtsverfassungs- und Prozessrechtes für gewisse Kategorien von Rechts-
streitigkeiten; die reichsgesetzliche Zulassung besonderer Gerichte be-
deutet eine Erweiterung der Autonomie der Einzelstaaten, indem dieselben
die Ermächtigung erhalten, für gewisse Kategorien von Rechtsstreitigkeiten
an die Stelle des Gerichtsverfassungsgesetzes und der Reichsprozessordnungen
andere Rechtsvorschriften zu erlassen ?).
Aus den vorstehenden Erörterungen ergibt sich, inwieweit die Einzel-
staaten befugt sind, im Wege der Landesgesetzgebung die Zuständigkeit der
ordentlichen Gerichte und damit zugleich den Umfang der ordentlichen strei-
tigen Gerichtsbarkeit zu bestimmen. Gänzlich ausgeschlossen ist aber ein Ein-
griff in die gesetzlich normierte Zuständigkeit der Gerichte für einen oder
mehrere einzelne Fälle, sowohl im Wege der Gesetzgebung als auch im
Wege der Verwaltung. ‚„Ausnahmegerichte sind unstatthaft. Niemand darf
seinem gesetzlichen Richter entzogen werden‘ ®). Zur Sicherung dieses Ver-
botes hat das Reich den Grundsatz sanktioniert, dass die Gerichte über
dieZulässigkeit des Rechtswegesentscheiden®). In-
dessen sind die Einzelstaaten ermächtigt worden, unter Beobachtung gewisser
Normativvorschriften besondere Behörden einzusetzen, um Streitigkeiten
zwischen den Gerichten und Verwaltungsbehörden oder Verwaltungsge-
richten über die Zulässigkeit des Rechtsweges, sogen. Kompetenzkon-
flikte, zu entscheiden °). Ferner sind die landesgesetzlichen Vorschriften
unberührt geblieben, durch welche die strafrechtliche oder zivilrechtliche
Verfolgung öffentlicher Beamten wegen der in Ausübung oder in Veran-
lassung der Ausübung ihres Amtes vorgenommenen Handlungen an die Vor-
entscheidung einer besonderen Behörde gebunden ist ®); um jedoch
1) GerichtsverfGes. $ 14. RG. betreffend die Gewerbegerichte. Vom 29. Juli 1890
(RGBl. S. 141) u. die Novelle dazu vom 30. Juni 1901 (RGBil. S. 249). Diese Novelle
macht die Errichtung eines Gewerbegerichts für Gemeinden von mehr als 20 000 Ein-
wohnern obligatorisch. RG. betreffend Kaufmannsgerichte v. 6. Juli 1904 (RGBl.
S. 266). Auch die Errichtung dieser Gerichte ist für Gemeinden von mehr als 20 000
Einwohnern obligatorisch (Ges. $ 2).
2) Die Errichtung der Gewerbe- und Kaufmannsgerichte erfolgt durch Orts-
statut nach Massgabe des $ 142 der Gewerbeordn.
3) GerichtsverfGes. $ 16. Nur die im Falle der Verhängung des Belagerungszu-
standes errichteten Kriegsgerichte und Standrechte bilden eine Ausnahme.
4) Ebenda $ 17 Abs. 1.
5) Ebenda $ 17 Abs. 2. Vgl. mein Staatsrecht d. D. R. Bd. III S. 362 fg. (4. Aufl.).
Die Behörden der einzelnen Staaten können nur Kompetenzkonflikte unter den Be-
hörden des betreffenden Staates entscheiden; daher ist die Erhebung des Konflikts
auch ausgeschlossen, wenn die Sache durch Einlegung der Revision beim Reichsgericht
anhängig geworden ist. Vgl. die vortrefflich begründete Entsch. der vereinigten Zivil-
senate des Reichsgerichts v. 22. Mai 1901 (Entsch. Bd. 48 S. 195 ff.).
6) Einführungs-Ges. z. GerichtsverfGes. $ 11 Abs. 2. Vgl. Staatsrecht d. D. R.
8.366 fg.u. Silberschmidt, Die civilr. Bedeutung der Vorentscheidung. Aıch.
f. bürgerl. R. Bd. 20 Heft 2.