Full text: Das öffentliche Recht der Gegenwart. Band I. Deutsches Reichsstaatsrecht. (1)

338 Achter Abschnitt: Das Gerichtswesen. $ 35 
4. So wenig die Einzelstaaten befugt sind, Befreiungen von der ordent- 
lichen streitigen Gerichtsbarkeit zu gewähren, ebensowenig ist es ihnen ge- 
stattet, die letztere oder deren Ausübung zu verleihen oder unter irgend einem 
Rechtstitel zu übertragen. Die Gerichte sind Staatsgerichtel). 
Hierdurch sind alle in Deutschland noch vorhanden gewesenen Reste einer 
patrimonialen, kommunalen oder kirchlichen Gerichtsbarkeit definitiv und voll- 
ständig beseitigt und auch für die Zukunft ist es den Staaten untersagt, 
Rechte dieser Art zu erteilen. Dagegen ist es den Deutschen Staaten un- 
benommen, unter einander Verträge zu schliessen, durch welche ein Staat 
die Gerichtsbarkeit ganz oder zum Teil einem andern Bundesstaat (oder 
auch dem Reich) zur Ausübung überträgt oder durch welche zwei oder meh- 
rere Staaten zur gemeinschaftlichen Ausübung der Gerichtsbarkeit sich 
vereinigen ?). 
5. Die Gerichtsbarkeit desReiches. 8) Die ordent- 
lichestreitige Gerichtsbarkeit des Reiches ist identisch mit 
der Zuständigkeit des Reichsgsrichts in bürgerlichen Rechsstreitigkeiten 
und Strafsachen, da unter den im $ 12 des GVG. aufgeführten ‚‚ordentlichen“ 
Gerichten sich das Reichsgericht befindet. Die Zuständigkeit des Reichs- 
gerichts erstreckt sichinbürgerlichen Rechtsstreitigkeiten auf die Ent- 
scheidung über die Berufung gegen die Entscheidungen der Reichskonsuln 
und Reichskonsulargerichte ®) und über das Rechtsmittel der Revision gegen 
die in der Berufungsinstanz erlassenen Endurteile der Oberlandesgerichte 
der einzelnen Bundesstaaten ?). Abgesehen von den Voraussetzungen rein 
prozessualischer Natur ist das Rechtsmittel der Revision in der Art be- 
schränkt, dass es nur auf die Behauptung gestützt werden kann: Dass die 
Entscheidung auf der Verletzung eines Reichsgesetzes oder eines Gesetzes, 
dessen Geltungsbereich sich über den Bezirk des Berufungs- 
gerichtshinaus erstreckt, beruhe“ 5). Mit Zustimmung des Bundes- 
rats kann aber durch Kaiserl. Verordnung bestimmt werden, sowohl dass 
die Verletzung von Gesetzen, obgleich deren Geltungsbereich sich über den 
Bezirk des Berufungsgerichts hinaus erstreckt, die Revision nicht begründe, 
als auch, dass die Verletzung von Gesetzen, obgleich deren Geltungsbereich 
  
1) GerVerfGes. $ 15. Staatsgerichte stehen im Gegensatz zu Privatgerichten. Auch 
lie Gewerbegerichte u. Kaufimannsgerichte sind Staatsgerichte, wenngleich sie durch 
Ortsstatut der Gemeinden errichtet werden. Denn die Gemeinden handeln kraft einer 
vom Reich ihnen übertragenen Funktion als Organe des Staates. Dass den Gemeinden 
die Kosten dieser Gerichte aufgebürdet sind, ist für den Charakter der Gerichte be- 
langlos. Uebereinst. Hellwig, 8. 72 Anm. 29a. Auch die Arbeiterversicherungs- 
gerichte sind Staatsgerichte. Rosin, Arbeitervers. Bd. I 8. 732 Bd. II 8. 258. 
2) Die gegenwärtig in Geltung stehenden Gerichtskonventionen sind aufgeführt 
im Staatr. d. D. R. 11I 8. 373 fg. 
3) KonsulargerichtsbarkeitGes. $ 14 Abs. 1 und $ 19. 
4) GerichtsverfGes. $ 135. nach dem Reichsges. v. 22. Mai 1910 Art. 1 (RGBi. 
S. 767). Durch dieses Gesetz wurde das Reichsgericht von der Entscheidung über 
Beschwerden entlastet und die Revision über Urteile, (lurch welche über die Anord- 
nung, Abänderung oder Aufhebung eines Arrestes oder einer einstweiligen Verfügung 
entschieden wird, zu dem gleichen Zweck der Entlastung des RGs. für nicht zulässig 
erklärt. Ueber die Beschränkung dieser Zuständigkeit in Bezug auf Bayern siche 
unten 8. 311. 
5) ZivilprozO. $ 519.
	        
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