$ 35 Die Gerichtsbarkeit. 34]
ganze Bundesgebiet. Das Gleiche gilt hinsichtlich der Wirkungen
der bei einem Gerichte eingetretenen Rechtshängigkeit, sowie in bezug auf
die verpflichtende Kraft der zur Erledigung der Prozesse erforderlichen rich-
terlichen Gebote oder Verbote an Personen, die sich im Bundesgebiete be-
finden. Mithin übt jeder einzelne Staat eine Gerichtsbarkeit über das
ganze Bundesgebiet aus; aber nicht nach eigener freier Normgebung,
sondern er ist hierbei an die Vorschriften der Reichsgesetze über die Zustän-
digkeit und das Verfahren gebunden. Sodann erleidet die Gerichtsbarkeit
der Einzelstaaten eine wesentliche Beschränkung durch die Zuständigkeit
des Reichsgerichts zur Entscheidung der Streitigkeiten in letzter Instanz;
es fehlt ihr die selbständige Spitze und Vollkommenheit. Jedoch gestattet
das Einf.Ges. zum GerichtsverfGes. $ 8 Abs. 1 einem Bundesstaat, in wel-
chem mehrere Oberlandesgerichte errichtet werden, durch seine Gesetz-
gebung die Verhandlung und Entscheidung der zur Zuständigkeit des Reichs-
gerichts gehörenden Revisionen und Beschwerden in bürgerlichen Rechts-
streitigkeiten einem obersten Landesgericht zuzuweisen. Ausgenommen
sind jedoch diejenigen bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten, welche zur Zustän-
digkeit des Reichsoberhandelsgerichts gehört haben oder welche durch be-
sondere Reichsgesetze dem Reichsgericht zugewiesen werden !). Der einzige
deutsche Staat, welcher von dieser Befugnis Gebrauch gemacht hat, ist Ba y-
ern, woselbst durch Landesgesetz vom 23. Febr. 1879 Art. 42 ff. ein oberstes
Landesgericht in München errichtet worden ist ?2). Endlich sind die Einzel-
staaten verpflichtet, die ordentl. streit. Gerichtsbarkeit nach den in den
Reichsgesetzen gegebenen Vorschriften zu handhaben. Die Ueberwachung
der Einzelstaaten, dass sie dieser Verpflichtung nachkommen, liegt dem Kaiser
ob, der dieselbe vermittelst des dem Reichskanzler unterstellten Reichs-
justizamtes bewirkt).
b) Die reichsgesetzlich nicht normierteGerichts-
barkeit der Einzelstaaten bietet für das Reichsstaatsrecht keinen Anlass
zu speziellen Erörterungen; sie ist der Autonomie und freien Verwaltung
der Einzelstaaten überlassen. Es steht den letzteren auch frei, zur Ausübung
dieser Gerichtsbarkeit die ordentlichen Gerichte zu verwenden; je-
doch ist ihnen reichsgesetzlich verboten, denselben andere Geschäfte der
Verwaltung als diejenigen der Justizverwaltung zu übertragen ®).
7. Die VerpflichtungzurRechtshilfe. Der Grundsatz,
1) EinfGes. z. GerichtsverfGes. $ 8 Abs. 2. Das Ges. v. 20. Fehr. 1911 (RGBi.
S.50) hat jedoch hinzugefügt: ‚es sei denn, dass für die Entscheidung im wesent-
lichen Rechtsnormen in Betracht kommen, die in Landesgesetzen enthalten sind“.
2) In Sachsen ist die Errichtung eines obersten Landesgerichts durch das RG. v.
11. April 1877 (RGBi. S. 415) ausgeschlossen worden, weil das Reichsgericht im Gebiet
des Königreichs seinen Sitz hat. Preussen hat auf die Errichtung eines obersten Landes-
gerichts verzichtet; die anderen Staaten haben nur ein Oberlandesgericht. Auch in
Bayern ist die Bedeutung und Zuständigkeit des obersten Landesgerichts seit dem In-
krafttreten des BGB. erheblich vermindert worden, da das EinfGes. zum BGB. Art. 6
in allen bürgerl. Streitigkeiten, in welchen ein Anspruch auf Grund des BGB.s geltend
gemacht wird, die Entscheidung letzter Instanz dem Reichsgericht zuge-
wiesen hat. Siehe oben Note 1.
3) Vgl. oben S. 30 und H. Kiefer, Aufsichtsrecht des Reichs (1909) S. 117 fg.
4) EinfGes. zum GerichtsverfGes. $ 1.