Full text: Das öffentliche Recht der Gegenwart. Band I. Deutsches Reichsstaatsrecht. (1)

342 Achter Abschnitt: Das Gerichtswesen. N 
  
  
dass die Gerichte des Bundesgebietes sich in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten 
und in Strafsachen gegenseitig Rechtshilfe zu leisten haben, ohne dass es 
einen Unterschied macht, ob das ersuchende und das ersuchte Gericht dem- 
selben Bundesstaate, oder ob sie verschiedenen Bundesstaaten angehören, ist 
bereits in dem Ges. des Nordd. Bundes vom 21. Juni 1869 anerkannt worden, 
dessen Geltung zunächst durch Staatsverträge auf Baden !) und Südhessen ?), 
sodann bei der Reichsgründung verfassungsmässig auf das ganze Reichsge- 
biet ausgedehnt worden ist. Die Bestimmungen dieses Gesetzes sind aber 
mit der Einführung einer gleichmässigen Gerichtsverfassung und einer ge- 
meinrechtlichen Prozessordnung zum Teil überflüssig, zum Teil unanwendbar 
geworden, und soweit sie noch praktische Bedeutung behalten haben, sind sie 
in die Reichsjustizgesetze, insbesondere in das Gerichtsverfassungsgesetz 
übergegangen. Das Ges. v. 21. Juni 1869 regelt aber die gegenseitige Rechts- 
hilfe in bürgerlichen Rechsstreitigkeiten und in Strafsachen ohne Unterschei- 
dung und Einschränkung, während das Gerichtsverfassungsgesetz und die 
Prozessordnungen nur für die ordentliche streitige Gerichtsbarkeit 
Geltung haben. Die Vorschriften des Gerichtsverfassungsgesetzes über die 
Rechtshilfe sind aber ausgedehnt worden auf die Anträge der Seeämter (Ges. 
v. 27. Juli 1877 $ 20; auf die Gewerbegerichte (Ges. v. 30. Juni 1901 $ 61) und 
Kaufmannsgerichte (Ges. v. 6. Juli 1904 $ 16 Abs. 1); auf das Patentamt 
(Patentges. v. 7. April 1891 $ 32); auf die Konsulargerichte (Ges. v. 7. April 
1900 $ 18); auf die Schutzgebietsgerichte durch das Gesetz vom 25. Juli 1900 
Art.1I$ 2; auf die Militär- und Marinegerichte durch das EinfGes. zur Militär- 
strafgerichtsordn. $ 11 fg.; auf die Prisengerichte (V. v. 15. Febr. 1889 $ 29); 
auf die reichsgesetzlich geregelten Angelegenheiten der freiwilligen Gerichts- 
barkeit (Ges. v. 17. Mai 1898 $ 2). 
Ausserdem ist die Verpflichtung zur Rechtshilfe reichsgesetzlich ange- 
ordnet worden in Sachen der Reichsversicherung und zwar nicht nur hinsicht- 
lich der Gerichte, sondern aller öffentlichen Behörden und der Organe der 
Versicherungsträger (Reichsvers.Ordn. $ 115. Versicherungsges. f. Angestellte 
$ 322) und bei Einziehung von Abgaben und Vollstreckung von Vermögens- 
strafen (Ges. v. 9. Juni 1895 RGBl. S. 256). Auch sind die Gerichte ver- 
pflichtet, den Ersuchen des Reichsaufsichtsamts für Privatversicherung 
Rechtshilfe zu leisten (Reichsges. v. 12. Mai 1901 $ 79) und dem Ersuchen des 
Börsenehrengerichts und der Berufungskammer um Vernehmung von Zeugen 
und Sachverständigen zu entsprechen. 
Durch diese zahlreichen Gesetze hat das Rechtshilfegesetz vom 21. Juni 
1869 seine praktische Bedeutung fast vollkommen verloren. 
Obgleich die Gerichtsbarkeit oder Gerichtsgewalt jedes deutschen or- 
dentlichen Gerichts sich auf das ganze Reichsgebiet erstreckt, so darf doch 
ein Gericht Amtshandlungen ausserhalb seines Bezirks regelmässig nicht vor- 
nehmen. Wenn daher in einem Verfahren eine richterliche Handlung er- 
forderlich wird, welche in einem anderen Gerichtsbezirk als in dem des Pro- 
1) Vertrag v. 14. Januar 1870 (BGBl. S. 67). 
2) Vertrag v. 18. März 1870 (BGBl. S. 607, 617). 
 
	        
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