$ 36 Die Gerichtsverfassung. 345
Die Organisation des Reichsgerichts ist derjenigen der Ober-
landesgerichte gleichartig; es wird mit einem Präsidenten und der erforder-
lichen Anzahl von Senatspräsidenten und Räten besetzt; es werden Zivil-
und Strafsenate gebildet, deren Anzahl der Reichskanzler bestimmt. Zu dem
„Präsidium“ sind die vier ältesten Räte des Gerichts zuzuziehen. Im übrigen
finden die in den $$ 61—68 des GerichtsverfGes. gegebenen Vorschriften über
den Vorsitz in den Senaten, die Bildung der letzteren, die Verteilung der
Geschäfte, die Vertretung im Falle der Verhinderung Anwendung. Die Zu-
ziehung von Hilfsrichtern ist für unzulässig erklärt !). Eigentümlich ist dem
Reichsgericht die Verhandlung von Zivilsachen vor den vereinigten
Zivilsenaten und von Strafsachen vor den vereinigten Strafsenaten,
wenn in einer Rechtsfrage ein Zivilsenat von einer früheren Entscheidung
eines anderen Zivilsenats oder der vereinigten Zivilsenate, oder ein Strafsenat
von einer früheren Entscheidung eines anderen Strafsenats oder der verei-
nigten Strafsenate abweichen will. Wenn ein Zivilsenat von der Entscheidung
eines Strafsenats oder der vereinigten Strafsenate oder ein Strafsenat von der
Entscheidung eines Zivilsenats oder der vereinigten Zivilsenate abweichen
will, so bedarf es einer Entscheidung des Plenum s. Dasselbe findet statt,
wenn ein Senat von der früher eingeholten Entscheidung des Plenums abwei-
chen will 2). Analoge Vorschriften bestehen für das Reichsversicherungsamt,
dessen ‚Grosser Senat‘ in den angegebenen Fällen entscheidet (RVO. $ 1717).
3. Bei jedem Gerichte wird eine Gerichtsschreiberei einge-
richtet; ferner werden Beamte mit den Zustellungen, Ladungen und Voll-
streckungen betraut (Gerichtsvollzieher). Die Dienst- und Ge-
schäftsverhältnisse der Gerichtsschreiber und der Gerichtsvollzieher werden
bei dem Reichsgericht durch den Reichskanzler, bei den Landesgerichten
durch die Landesjustizverwaltung bestimmt ?).
4. Die Staatsanwaltschaft. Die Prozessordnungen erfordern
bei allen Strafsachen und bei gewissen bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten
(Ehesachen, Entmündigungssachen, Feststellung des Rechtsverhältnisses
zwischen Eltern und Kindern) die Tätigkeit einer von den Gerichten verschie-
denen Behörde, welche die Bezeichnung Staatsanwaltschaft führt. Hier-
durch ist die Einrichtung einer solchen bei dem Reichsgericht erforderlich
gemacht und den Einzelstaaten die Verpflichtung auferlegt worden, für das
Bestehen von Behörden Sorge zu tragen, welche bei den Landesgerichten
die der Staatsanwaltschaft reichsgesetzlich zugewiesenen Geschäfte wahrneh-
men. Die reichsgesetzlichen Vorschriften über die Tätigkeit und Organi-
sation der Staatsanwaltschaft beziehen sich aber nur auf das Gebist der or-
dentlichen streitigen Gerichtsbarkeit; für dieübrigen Zweige der
Gerichtsbarkeit haben die Einzelstaaten auch hinsichtlich der Staatsanwalt-
1) GerichtsverfGes. $ 125 ff. Eine vorübergehende Ausnahnie gestattet das Gesetz
v. 22. Mai 1910 Art. 12. Der Geschäftsgang beim Reichsgericht wird durch eine vom
Plenum desselben auszuarbeitende und von: Bundesrat zu bestätigende Geschäftsordnung
geregelt. Dieselbe ist am 8. April 1880 vom Reichskanzler bekannt gegeben worden.
Zentralbl. 1880 8. 190 ff. Vgl. daselbst 1886 S. 300.
2) Reichsges. v. 17. März 1886 (RGBl. S 61).
3) GerichtsverfGes. $ 154, 155.