Full text: Das öffentliche Recht der Gegenwart. Band I. Deutsches Reichsstaatsrecht. (1)

98 Zweiter Abschnitt: Das rechtliche Verhältnis d. Reiches zu den Gliedstaaten. $5 
  
durch das Interesse des Einzelstaates geboten gewesen wäre. Ob eine der- 
artige Regierungshandlung oder Unterlassung überhaupt geeignet ist, eine 
juristische Verantwortlichkeit zu begründen, ist ausschliesslich nach 
dem Ministerverantwortlichkeitsgesetz des einzelnen Staates zu entscheiden ; 
eine politische (parlamentarische) Verantwortlichkeit ist in jedem Falle 
vorhanden, und keine Regierung wäre berechtigt, eine Rechtfertigung ihres 
Verhaltens und eine Darlegung der Gründe desselben ihrer Landesvertretung 
gegenüber mit dem Hinweise abzulehnen, dass die in Rede stehende Ange- 
legenheit Reichssache sei; denn die Instruktions-Erteilung an die Vertreter 
des Staates im Bundesrat ist in der Tat niemals Reichssache, sondern immer 
eine Regierungs-Angelegenheit des Einzelstaates }). 
$5. Die Unterordnung der Einzelstaaten unter 
das Reich. I. Das Verhältnis des Reiches zu den Einzelstaaten hinsicht- 
lich der Ausübung der Staatstätigkeit ist im Art. 4 der RV.prinzipiell 
in der Art geregelt, dass die in diesem Artikel aufgeführten Angelegenheiten 
„der Beaufsichtigung seitens des Reiches und der Gesetzgebung desselben 
unterliegen“. Die Durchführung und Handhabung der Gesetze dagegen ist 
auf das Reich nicht übergegangen, sondern den Einzelstaaten verblieben. Die 
Einzelstaaten haben daher dem Reiche gegenüber diejenigen Befugnisse, welche 
den Selbstverwaltung skörpern zustehen, und das Wesen der Selbst- 
verwaltung ausmachen 2); während das Reich diejenigen Rechte ausübt, 
welche der souveränen Staatsgewalt den Selbstverwaltungskörpern gegenüber 
gebühren, nämlich die Aufstellung der Normen und die Kon- 
trolle ihrer Befolgung. Im übrigen ist das Mass der den Einzel- 
staaten überlassenen Selbstverwaltung auf den verschiedenen Gebieten der 
staatlichen Tätigkeit höchst mannigfach bestimmt, wie sich bei der Darstel- 
lung der einzelnen Verwaltungszweige ergeben wird. 
Von dieser prinzipiellen Ordnung bestehen aber nach beiden Seiten 
hin Abweichungen. Für einzelne Angelegenheiten hat das Reich den Einzel- 
staaten die Befugnisse der Selbstverwaltungs-Körper nicht zugewiesen, sondern 
sie gänzlich ausser Funktion gesetzt und sich seinen eigenen Apparat zur 
1) Vgl. Pistorius, Die Staatsgerichtshöfe und die Ministerverantwortlich- 
keit. Tübingen 1891. S. 195 ff. Anderer Ansicht Hänel, Studien I. 221; Meyer, 
Staatsr. $ 186 u. A. Eine Uebersicht der Literatur und der verschiedenen Ansichten 
daselbst Note 4. 
2) Das Wesen der Selbstverwaltung ist nicht mit der vulgären Auffassung in 
der Verwaltung durch unbesoldete Ehrenbeamte (im Gegensatz zur Verwaltung durch 
besoldete Berufsbeamte) zu erblicken, — so namentlich noch G. Meyer, Staatsr. 
$ 106 III —, sondern es besteht darin, dass eine obere Gewalt die ihr zustehenden Ho- 
heitsrechte nicht unmittelbar mittelst eines eigenen, zu ihrer ausschliesslichen Dispo- 
sition stehenden Apparates durchführt, sondern mittelst ihr untergeordneter, aber inner- 
halb ihres Wirkungskreises selbständiger Korporationen oder Einzelpersonen. Vgl. 
Reichsstaatsrecht 1. (5. Aufl.) S. 102 ff. Uebereinstinmend Zorn, Tl. S. 109 ff. Vgl. 
über den Begriff der Selbstverwaltung insbesondere Rosin in Hirths Annalen 1883 
S. 305 ff., ferner Hän el, Staatsr. I. S.135 ff. und meine Abhandlung im Rechtsgeleerd 
Magazijn 1891 8. 147 ff. O.Mayer, Verwaltungsr. I, 127; ILS. 372 ff. P.Schoen, 
Das Recht der Kommunalverbände in Preußen 1897 S. 1 ff. Jellinek, System 
(2. Aufl.) S. 290 fg.; auch allgem. Staatslehre (2. Aufl.) S. 616 ff. Gluth, Lehre von 
der Selbstverwaltung. Wien 1887: Blodig, Die Selbstverwaltung als Rechtsbegriff. 
Wien 1894 S. 4 ff. ı
	        
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