Full text: Das öffentliche Recht der Gegenwart. Band I. Deutsches Reichsstaatsrecht. (1)

32 Zweiter Abschnitt: Das rechtliche Verhältnis d. Reiches zu | den Gliedstaaten. 86 
  
  
wird. Die Exekution ist vom Bundesrate zu beschliessen und vom Kaiser zu 
vollstrecken (RV. Art. 19)!). 
$6. Die Rechte der Einzelstaaten’?). Aus der Natur des 
Bundesstaates als einer aus Staaten bestehenden öffentlichrechtlichen Korpo- 
ration ergibt sich, dass die Mitgliedstaaten Rechte, sowie auch Pflichten 
haben. Diese Rechte sind aber nicht durchweg von gleicher juristischer Natur; 
ihr Verhältnis zur Mitgliedschaft an sich ist vielmehr ein verschiedenes. Die 
Rechte, welche den Einzelstaaten im Verhältnis zum Reiche zustehen, lassen 
sich auf folgende drei Kategorien zurückführen: 
1. Mitgliedschaftsrechte. Dieselben sind das Resultat oder 
der Reflex der Reichsverfassung, ihre Wirkung auf die einzelnen Mitglieder. 
Die Kompetenz des Reiches enthält einerseits Beschränkungen der Glied- 
staaten, indem die zur Erfüllung dieser Aufgaben erforderlichen Hoheitsrechte 
dem Einzelstaat entzogen und auf das Reich übertragen sind; sie begründet 
aber andererseits Rechte der Einzelstaaten und ihrer Angehörigen, dass das 
Reich diese Aufgaben auch für sie und zu ihren Gunsten erfülle. Rechte 
dieser Art sind der Anspruch jedes Staates auf den diplomatischen und 
militärischen Schutz gegen Rechtsverletzungen seitens des Auslandes und 
seitens anderer Bundesstaaten und der Anspruch, dass das Reich die ihm 
obliegende Pflege der Wohlfahrt des deutschen Volkes allen zum Reiche 
gehörenden Teilen gleichmässig angedeihen lässt ?). Entsprechend diesen 
Rechten auf den Schutz und die Wohlfahrtspflege seitens des Reiches sind 
die Pflichten des Einzelstaates zur anteilsmässigen Tragung der militärischen 
und finanziellen Lasten. Zu den Mitgliedschaftsrechten ist ferner zu rechnen 
die Beteiligung der Einzelstaaten an den Organen, durch welche das Reich 
seinen Willen äussert und betätigt; insbesondere das Recht jedes Staates auf 
die ihm zustehenden Stimmen im Bundesrat gemäss dem im Art. 6 der RV. 
fostgestellten Grundsatz; ferner auf anteilsmässige Vertretung seiner Bevöl- 
kerung im Reichstage nach Massgabe des dem Reichswahlgesetz zugrunde 
liegenden Wahlsystems; endlich das Recht jedes Staates, dass seine Ange- 
hörigen unter den gleichen Bedingungen wie die Angehörigen der anderen 
Staaten zur Bekleidung von Reichsämtern zugelassen werden. 
Da die Mitgliedschaftsrechte sich als unmittelbare Wirkungen der Reichs- 
verfassung charakterisieren, so ändert sich der Inhalt derselben mit jeder Ab- 
änderung der Verfassung. Bestimmt wird dieser Inhalt einseitig vom 
Reich durch die von ihm ausgehenden Willensakte; der einzelne Staat 
kann nur durch seine Abstimmung im Bundesrat auf die Erhaltung oder 
Erweiterung seiner Rechte oder auf die Einschränkung seiner Pflichten hin- 
wirken. Die Gesamtheit der einzelnen Staaten erscheint tamquam unum 
corpus und der Teil wird durch die Veränderung des Ganzen ohne weiteres 
mitbetroffen. Dieeinzelnonin der Mitgliedschaft enthaltenen Rechte und 
Pflichten der Staaten sind daher dem Reiche gegenüber nicht jura quaesita, 
Dı\ 'gl. Schilling, im Arch. f. öffentl. R. Bd. 20 8. 51 ft. 
2) Vgl. meine Alhandl. in Ilirth’s Annalen 1874 S. 1187 —1524. 
3) Eingang zur RV.,
	        
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