Full text: Das öffentliche Recht der Gegenwart. Band I. Deutsches Reichsstaatsrecht. (1)

86 Die Rechte der Einzelstaaten. 33 
  
die nioht ohne Zustimmung der einzelnen Staaten eingeschränkt oder beseitigt 
werden könnten. Ebensowenig sind die in der Mitgliedschaft begründeten 
Pflichten ihrem Umtange nach definitiv begrenzt. Grundsätzlich sind aber die 
Mitgliedschaftsrechte und die ihnen entsprechenden Pflichten für alle Staaten 
dieselben; nicht etwa in dem Sinne, dass sie für alle Staaten absolut gleich 
seien, sondern dass auf alle Staaten dieselben Rechtsregeln Anwendung finden. 
Auf der Anerkennung dieser Gleichberechtigung, der Koexistenz einander 
ebenbürtiger staatlicher Personen, beruht das Bundes verhältnis, der 
bundesstastliche Charakter des Reiches. Ausdrückliche Anwendung und 
Anerkennung hat dieses Prinzip in Art. 58 der RV. hinsichtlich der Kosten 
und Lasten des Kriegswesens und im Art. 70 hinsichtlich der Verteilung der 
Matrikularbeiträge gefunden; aber auch in allen anderen Beziehungen muss 
als ein Rechtsgrundsatz anerkannt werden, dass jede Abweichung von der 
Gleichberechtigung zuungunsten eines oder einzelner Mitglieder deren 
spezielle Zustimmung erfordert. Durch dieses Prinzip ist aber nicht ausge- 
schlossen, dass nicht einzelnen Staaten Sonderrechte eingeräumt werden, durch 
welche die Lasten und Pflichten der übrigen nicht erschwert werden, oder dass 
einzelnen Staaten mit Zustimmung aller übrigen Prärogativen beigelegt werden. 
2.Sonderrechte (jura singularia) sind diejenigen Rechte einzelner 
Bundesstaaten in deren Verhältnis zur Gesamtheit, welche Abweichungen 
von der sonst geltenden Regel zugunsten eines oder einzelner Staaten 
bilden: siesindModifikationendesPrinzipsderGleich- 
heit aller Mitglieder; sie sind deshalb nicht ohne weiteres in der 
Mitgliedschaft enthalten, sondern sie bedürfen eines besonderen Titels. Ihrem 
Inhalt nach bestehen die Sonderrechte entweder in Beschränkungen der 
Kompetenz des Reiches, indem einzelnen Staaten Hoheitsrechte vorbehalten 
sind, welche hinsichtlich der übrigen dem Reiche zustehen, oder in Bevor- 
zugungen einzelner Staaten hinsichtlich der Organisation des Reiches oder 
endlich in finanziellen Begünstigungen !). Die wichtigsten Sonderrechte der 
ersten Klasse sind die Rechte Hamburgs und Bremens auf Frei- 
häfen (Art. 34), die Exemtion Badens von der Reichsgesetzgebung über 
Besteuerung des inländischen Bieres (und Branntweins) ?2), die besonderen 
Rechte Württembergs hinsichtlich der Bier- (und Branntwein)steuer, 
des Post- und Telegraphenwesens, des Reichskriegswesens und des Eisenbahn- 
wesens ®), und die Exemtion Bayerns von der Bier- (und Branntwein)- 
1) Die erste dieser Klassen wird gewöhnlich mit dem:#Namen ‚„Reservatrechte‘“ 
belegt; diese Bezeichnung findet sich aber in der Verfassung und in den Gesetzen des 
Reiches nicht. Zorn, I, 8. 118 nennt die ersteren „Ausnahmsrechte‘, die anderen 
„VvVorrechte‘‘. Indes dies ist kein Gegensatz: Vorrechte sind Ausnahmsrechte. Vgl. 
Nirrheim, Der Begriff des Reservatrechts im Sinne der RV. im Arch f. öffentl. 
R. Bd. 25 8. 579 ff. 
2) Die verfassungsmäßige Exemtion der süddeutschen Staaten von der Brannt- 
weinsteuergemeinschaft ist durch das RG. vom 24. Juni 1887 zwar aufgehoben worden; 
dieses Gesetz hat ihnen aber gewisse besondere Rechte zugewiesen. Siehe unten die 
Lehre vom Finanzwesen. 
3) Dieses, im Schlussprotok. v. 25. Nov. 1870 Ziff. 2 begründete Sonderrecht be- 
steht darin, dass die Einführung des sogenannten Einpfennigtarifs in Württemberg 
nicht ohne die Zustimmung der Württembergischen Regierung erfolgen kann. Hs ist 
ohne praktische Bedeutung. 
Laband, Reichsstaatsrecht. 6. Aufl. 3
	        
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