S 45 Die Finanzwirtschaft des Reiches. VIII Die Matrikularbeiträge. 427
werden. Schlimmer noch als diese Verletzungen der Reichsverf. waren die
tatsächlichen Folgen der Verkettung der Reichswirtschaft mit der Finanzwirt-
schaft der Einzelstaaten; die Ungewissheit, ob die Ueberweisungen grösser
ausfallen als die Matrikularbeiträge oder umgekehrt und wie hoch die Diffe-
renz in den einzelnen Etatsjahren sich beläuft, benahm der Ordnung der Fi-
nanzen der Einzelstaaten jede Sicherheit. In den Jahren 1896—1900 wurden
dann jährlich Gesetze erlassen, durch welche die Verteilung der Ueberschüsse
in willkürlicher und unregelmässiger Weise vermindert wurde, und zwar mit
dem Vorbehalt, dass diese Verteilung nachträglich nach dem wirklichen Er-
gebnis des Reichshaushalts wieder abgeändert werde. Da seit 1899 die Ueber-
weisungsbeträge nicht mehr die Matrikularbeiträge übersteigen, hat diese
sonderbare Reihe von prinziplosen Finanzgesetzen, welche den finanzrecht-
lichen Wirrwarr nur erhöhten, ein Ende gefunden.
Diese auf die Dauer unerträglichen Zustände fanden endlich eine teil-
weise Abhilfe durch das Reichsgesetzv. 14. Mai 1904 (RGBl. S. 169),
indem die Ueberweisung von Einnahmen aus den Zöllen und der Tabaksteuer
aufgehoben wurde !). Bei den im Jahre 1906 und 1909 neubewilligten Steuern
und Abgaben wurde das Prinzip der Ueberweisungen nicht eingeführt, son-
dern auch hinsichtlich der durch die früheren Gesetze eingeführten Stempel-
steuern aufgehoben. Gegenwärtig ist daher nur noch die Branntwein-Ver-
brauchsabgabe eine Ueberweisungssteuer; alle übrigen Reichssteuern fliessen
in die Reichskasse und verbleiben in ihr; die Reichserbschaftssteuer mit drei
Vierteln ihres Rohertrages ?), die Wertzuwachssteuer mit 50 Prozent.
Den Widerspruch gegen die Reichsverf. beseitigte das RG. v. 14. Mai
1904 dadurch, dass Art. 70 eine andere Fassung erhielt; indem die Worte
„so lange Reichssteuern nicht eingeführt sind‘ gestrichen und die ‚Ueberwei-
sungen“ ausdrücklich erwähnt worden sind, so dass sie aus einer verfassungs-
widrigen Einrichtung zu einer verfassungsmässigen gemacht wurden. Ma-
teriell aber wurde das Verhältnis der Ueberweisungen zu den Matrikularbei-
trägen durch folgende Rechtssätze geregelt:
1. Wenn die Ueberweisungen den Betrag der Matrikularbeiträge decken
oder übersteigen, so behält es dabei sein Bewenden.
2. Wenn die Matrikularbeiträge höher sind als die Ucberweisungen, die
übrigen ordentlichen Einnahmen des Reichs aber den Bedarf desselben über-
steigen, so ist den Bundesstaaten der zur Deckung des Bedarfs des Reichs
nicht erforderliche Betrag der Matrikularbeiträge am Jahresschluss zurück-
zuerstatten.
3. Wenn die Matrikularbeiträge durch die Ueberweisungen gedeckt wer-
den und die anderen Einnahmen einen Ueberschuss über den Bedarf des Reichs
ergeben, so ist der Ueberschuss zur Deckung gemeinschaftlicher ausser-
ordentlicher Ausgaben zu verwenden, sofern nicht durch das Etatsgesetz
etwas anderes bestimmt wird. Eine teilweise Rückerstattung der Matrikular-
beiträge findet in diesem Falle nicht statt.
1) Daher sanken die Ueberweisungen, welche 1903 noch (rund) 542 Mill. Mk. be-
trugen, im Etatsges. v. 1904 auf (rund) 196 Mill. Mk.
3) Finanzges. v. 1909 Art. 185.