Full text: Das öffentliche Recht der Gegenwart. Band I. Deutsches Reichsstaatsrecht. (1)

43? Zehnter Abschnitt: Das Finanzrecht. $ 46 
  
mung von Souverän und Volksvertretung, nicht einseitig von einem dieser 
beiden Organe verändert werden dürfen, so ergibt sich als unabweisliche 
Konsequenz, dass der Reichstag nicht einseitig die bestehenden Gesetze durch 
Verweigerung der zu ihrer Ausführung notwendigen Mittel suspendieren oder 
aufheben kann, dass es nicht alljährlich in sein Belieben gestellt sein kann, 
die Fortgeltung der Reichsgesetze und die Fortdauer der Reichsinstitute zu 
genehmigen oder zu unterdrücken. Es folgt demgemäss aus diesem Prinzip 
der Rechtssatz, dass das Ausgabenbewilligungsrecht des Reichstages durch die 
bestehenden Reichsgesetze und Institutionen gebunden und beschränkt ist 
und dass Ausgaben, welche zur Durchführung und Aufrechterhaltung dersel- 
ben erforderlich sind, von ihm nicht verweigert werden dürfen !). Der Etat 
ist nicht ein Organisationsgesetz des ganzen Reiches für je ein Jahr, sondern 
ein Wirtschaftsplan; er setzt also eine gesetzlich feststehende Organisation 
als feste Grundlage voraus. 
Die Ausgaben zerfallen mithin hinsichtlich des Bewilligungsrechts des 
Reichstages in zwei Kategorien, die man etwa als willkürliche und notwendige 
im staatsrechtlichen Sinne bezeichnen kann. Die ersteren dürfen von dem 
Reichstage nach Belieben verweigert werden und ihre Genehmigung hat den 
Charakter einer wirklichen Bewilligung, ohne welche die Reichsregierung zur 
Leistung dieser Ausgaben überhaupt nicht ermächtigt ist. Die anderen dürfen 
nicht ohne Zustimmung des Bundesrats vom Reichstage verweigert werden. 
Ihre Bewilligung ist eine staatsrechtliche Pflicht des Reichstages und hat nicht 
den Charakter einer Zahlungermächtigung für die Regierung, son- 
dern eines Anerkenntnisses der Notwendigkeit oder Angemessenheit 
der Ausgabe. Der eigentliche Rechtsgrund derselben ist unabhängig vom Etat 
in Reichsgesetzen oder Verträgen gegeben. Formell unterliegen zwar auch 
alle diese Ausgaben der Bewilligung des Reichstages, materiell aber ist diese 
Bewilligung keine wahre Bewilligung, weil der Reichstag nicht befugt ist, sie 
zu versagen ?). Die RV. enthält auch keine Anordnung, aus welcher ein freies, 
ungebundenes Bewilligungsrecht des Reichstages zu entnehmen wäre. Art. 69 
bestimmt, dass alle Einnahmen und Ausgaben für jedes Jahr veran- 
schlagt werden sollen; er bestimmt ferner die Form, in welcher dieser 
Voranschlag seine definitive Gestalt erhält, nämlich die Feststellung durch 
ein Gesetz, und er weist hierdurch dem Reichstage eine Mitwirkung zu. Art. 
71 stellt endlich als einen ‚Grundsatz‘, welcher bei der Feststellung des Etats 
zu befolgen ist, den hin, dass die Ausgaben in der Regel für ein Jahr bewil- 
ligt werden. Dieser Grundsatz bezieht sich daher auf die Zeit, für welche 
eine Ausgabe bewilligt wird; die Dauer der Bewilligung allein bildet 
den Gegenstand der Anordnung des Art. 71. Dagegen spricht dieser Artikel 
  
1) Ueber diesen Grundsatz sind fast alle deutschen Staatsrechtsschriftsteller ein- 
verstanden. Vgl. die Zitate in meinem Staatsr. des D. R. Bd. IV 8. 490 Note 2. Eine 
ausdrückliche Anerkennung in Beziehung auf den Militär-Etat hat er in der RV. Art. 62 
Abs. 4 gefunden: hinsichtlich der Schuldentilgung im RG. v. 3, Juni 1906 $ 4 Abs. 2; 
für die Verzinsung der Anleihen und Schatzscheine und die Einlösung derselben in der 
Reichsschuldenordn. $ 8. . 
3) Was hier vom Reichstage ausgeführt ist, gilt in gleicher Weise auch vom B u n- 
desrat.
	        
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