434 Zehnter Abschnitt: Das Finanzrecht. $ 46
verwaltung. Seine Bedeutung reicht über die Sphäre des Finanzwesens
weit hinaus. Bei der Aufstellung desselben ist die Tendenz nicht lediglich
auf die finanzielle Ordnung gerichtet; die Prüfung beschränkt sich nicht dar-
auf, ob die Einnahmen es gestatten, gewisse Ausgaben zu leisten, sondern
die Verwaltungsbedürfnisse selbst werden nach sachlichen Gesichtspunkten
geprüft und kontrolliert, die Notwendigkeit oder Nützlichkeit der Ausgaben
wird anerkannt oder verneint nach Massgabe der bestehenden Gesetze und
Einrichtungen und der dem Reich obliegenden Aufgaben, und erst in zweiter
Linie tritt die Sorge, Ausgaben und Einnahmen im Gleichgewicht zu erhalten,
hinzu. Der Etat bildet für die Verwaltung die Richtschnur, welche sie, so-
weit es von ihrem Willen abhängt, befolgen muss. Daher ist der Etat bei der
Rechnungslegung nach Vollendung des Geschäftsjahres zugrunde zu legen,
und zwar auch nicht bloss in finanzieller Beziehung, sodern ganz allgemein
zum Zwecke der Kontrolle der Verwaltung. Die Regierung kommt nicht mit
dem Nachweise durch, dass sie nicht mehr als die etatsmässige Gesamtsumme
verausgabt habe oder dass die von ihr geleisteten Ausgaben in den erhobenen
Einnahmen ausreichende Deckung finden, sondern sie muss darlegen, dass
sie die Verwaltung dem ihr vorgeschriebenen Programm gemäss geführt habe,
und sie muss alle Abweichungen davon, auch Mehreinnahmen und Minder-
ausgaben, unter Angabe der Gründe nachweisen ?).
2. DieFormdes Gesetzes kann zwar ausdem Etat kein Gesetz
im materiellen Sinne machen, da durch die Form der Mangel einer Rechts-
vorschrift nicht beseitigt wird; aber daraus folgt nicht, dass die Anwendung
der Gesetzesform ohne Rechtswirkung wäre. Die Gesetzesform schliesst die
Zustimmung des Bundesrats und des Reichstags ein, und diese Zustimmung
hat in diesem Falle wie in allen übrigen die Folge, dass die Reichsregierung
vonder Verantwortlichkeit entlastet wird. Dies ist die
Anwendung des allgemeinen, über das Staatsrecht weit hinausreichenden
Rechtsprinzips, dass, wer für seine Handlungen einem anderen verantwortlich
ist, durch die Zustimmung des letzteren zu einer Handlung von seiner Verant-
wortlichkeit für diese Handlung entlastet wird. Die Zustimmung von Bundes-
rat und Reichstag hat diese Wirkung auchohne Anwendungder
Gesetzesform. Denn bei der Genehmigung von Etatsüberschreitungen
und ausseretatsmässigen Ausgaben wird die Gesetzesform ni ch t beobachtet.
Auch werden in das Etatsgesetz nur die Kapitel und deren Summen unter
Angabe der Anzalıl der einzelnen Titel aufgenommen; die Beschlussfassung
des Bundesrates und des Reichstages erstreckt sich dagegen auf die Titel
selbst und die in denselben enthaltenen Positionen sowie auf die denselben bei-
gefügten Bemerkungen. Die Wirkung des Etatsgesetzes beschränkt sich aber
nicht auf dasjenige, was wirklich Gesetzesform erlangt hat (Kapitelüberschrif-
ten und Kapitelsummen), sondern auf allePositionen, welche zum Ge-
genstande der Beschlussfassung des Bundesrats oder Reichstags gemacht wor-
den sind. Auch dadurch erweist sich die Theorie, welche die Wirkungen des
1) Teber das Rechnungs- und Kassenwesen vgl. O. Schwarz, Formelle Finanz-
verwaltung in Preußen und im Reich. Berlin 1907.