62 Vierter Abschnitt: Die Organisation des Reiches. $ 11
Elsass-Lothringen hatte bisher keine Stimme im Bundesrat, weil es nicht Mit-
glied des Reiches, sondern Reichsland ist; indessen wurden seit 1879 Ver-
treter der Regierung des Reichslandes mit beratender Stimme bei den Sitzungen
des Bundesrates zugelassen und das Gesetz vom 31. Mai 1911 Art. 1 hat
Elsass-Lothringen drei Stimmen im Bundesrat verliehen, indem das Reichs-
land im Sinne des Art. 6 Abs. 2, 7 und 8 der RV. ‚als Bundesstaat gilt‘.
Vgl. unten $ 23. Der Kaiser kann nunmehr in Ausübung der Staatsgewalt
in Elsass-Lothringen Anträge stellen, welche weder Präsidialanträge noch
preussische sind, sondern wie Anträge eines Bundesstaates behandelt werden.
Für die Aufnahme von Vertretern einzelner Bevölkerungsklassen oder von
Individuen von hervorragender Stellung, z. B. der ehemals reichsunmittel-
baren Landesherren, bietet der Bundesrat keinen Raum. Die Stimmen der
einzelnen Staaten im Bundesrate sind nach demselben Verhältnis verteilt
wie im ehemaligen Plenum des Bundestages, mit der alleinigen Ausnahme,
dass Bayern statt vier Stimmen sechs Stimmen erhalten hat; demnach er-
geben sich für Preussen 17 Stimmen !); Sachsen und Württemberg führen
je 4, Baden und Hessen je 3, Mecklenburg-Schwerin und Braunschweig je 2
Stimmen, die übrigen 17 Staaten je eine Stimme. Dazu sind jetzt die 3 elsass-
lothr. Stimmen hinzugetreten. Die Gesamtzahl der Stimmen beträgt 61.
Dem Anspruch der Einzelstaaten auf ein Stimmrecht im Bundesstaate
entspricht auch eine Pflicht der Regierungen, von diesem Rechte Gebrauch
zu machen; aber diese Pflicht besteht nur innerhalb des Einzelstaates;
die Vernachlässigung dieser Pflicht würde eine Vernachlässigung der bei
. Führung der Regierung zu beobachtenden Sorgfalt sein; dagegen dem Reiche
gegenüber besteht keine Pflicht des Einzelstaates, für seine Vertretung im
Bundesrat, und ebensowenig für die Ausübung des Stimmrechts durch Er-
teilung der Instruktion zu sorgen. Art. 7 der RV. sagt: „Nicht vertretene
oder nicht instruierte Stimmen werden nicht gezählt‘. Hier ist ausdrücklich
die Möglichkeit hingestellt, dass ein Staat entweder gar nicht sich vertreten
lässt oder seinen Vertreter nicht in die Lage setzt, abzustimmen; und es ist
auch die Rechtsfolge eines solchen Verhaltens normiert. Sie besteht nicht
darin, dass der Einzelstaat vom Reiche angehalten werden könnte, seine
Stimme abzugeben; sondern darin, dass der Staat, welcher auf die Aus-
übung seines Stimmrechts verzichtet, bei der Beschlussfassung des Bundes-
rats unberücksichtigt bleibt ?).
Staaten, welche im Bundesrate mehrere Stimmen haben, können die-
Anträge sind, die preussischen Bevollmächtigten im Bundesrat daher nicht gegen sie
stimmen können, so müssen sie vor ihrer Einbringung im Bundesrat dem
preussischen Ministerium vorgelegt werden. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit,
dass der Reichskanzler dem preuss. Staatsministerium angehört.
1) Preussen vereinigt die ehemaligen Stimmen im Bundestags-Plenum von Preus-
sen (4), Hannover (4), Kurhessen (3), Holstein-Lauenburg (3), Nassau (2) und Frank-
furt (1).
2) Uebereinstimmend SeydelS. 280. A. A. Zorn]. 145, der im vollen Wider-
spruch mit der RV. sogar eine Exekution gegen die Einzelstaaten ‚bei dauernder Fern-
haltung vom Bundesrate‘“ für zulässig erklärt. — Vompolitischen Gesichtspunkte
aus ist allerdings nicht zu verkennen, dass jeder deutsche Staat die Pflicht hat, die
Interessen des Reichs zu fördern und dies durch Anteilnahme an den Beratungen und
Beschlüssen des Bundesrates zu betätigen.