Full text: Das öffentliche Recht der Gegenwart. Band I. Deutsches Reichsstaatsrecht. (1)

68 Vierter Abschnitt: Die Organisation des Reiches. $ 11 
  
Bundesbeschlusses vom 30. Oktober 1834 beruht, welcher die Einsetzung 
eines Schiedsgerichts zur Entscheidung von Streitigkeiten zwischen einer 
Regierung und den Ständen anordnete. Erfolgt die Erledigung durch ein 
Reichsgesetz, so soll dasselbe zwar der Idee nach das bestehende Recht 
deklarieren, also eine richterliche Entscheidung treffen; der Weg der Gesetz- 
gebung gestattet aber ganz anderen Motiven als juristischen und ganz anderen 
Erwägungen als richterlichen einen sehr erheblichen Einfluss. Bundesrat und 
Reichstag sind in einer Weise eingerichtet, die am wenigsten auf die Be- 
dürfnisse der Rechtspflege berechnet ist. Die Erledigung der Verfassungs- 
streitigkeit kann auch erfolgen durch Veränderung der Verfassung oder durch 
Ausserkraftsetzung des bestehenden Verfassungsrechtes für den einzelnen Fall. 
Die im Art. 2 der RV. den Reichsgesetzen beigelegte Wirkung, dass sie den 
Landesgesetzen vorgehen, kommt auch einem auf Grund des Art. 76 Abs. 2 
erlassenen Reichsgesetz zu, welches das bisherige Staatsrecht eines Bundes- 
gliedes abändert. 
Auf Streitigkeiten über Thronfolge und Regentschaft bezieht sich Art. 76 
Abs. 2 nicht; denn solche Streitigkeiten bilden keinen Streit zwischen Re- 
gierung und Ständen und können nicht einer Behörde des Staates zur Ent- 
scheidung überwiesen werden. Behörden zur Entscheidung von Thronfolge- 
streitigkeiten gibt es in keinem deutschen Staate. Zweifelhafter ist, ob Art. 76 
Abs. 1 auf Thronfolgestreitigkeiten Anwendung findet. Er setzt Streitigkeiten 
zwischen verschiedenen ‚Bundesstaaten‘ voraus; Thronfolgestreitigkeiten 
sind aber keine Streitigkeiten unter Staaten, sondern unter Fürsten auf Grund 
der Abstammung oder anderer persönlicher Rechtstitel. Der ‚Staat‘ kann 
kein Thronfolgerecht haben. Nur wenn man unter den Bundesstaaten die 
Bundesfürsten versteht, kommt man zu dem Resultat, dass Art. 76 Abs. 1 
auf alle nicht privatrechtlichen Streitigkeiten unter deutschen Bundesfürsten 
anwendbar sei!). Unzweifelhaft hat der Bundesrat die Legitimation seiner 
Mitglieder zu prüfen und diese Prüfung kann sich auch darauf erstrecken, 
ob die Vollmacht von dem berechtigten Vollmachtgeber erteilt ist, und da- 
durch eine Entscheidung über das Thronfolgerecht in sich schliessen. Diese 
Entscheidung trifft aber nur ein einzelnes, in der Staatsgewalt enthaltenes 
Recht, die Stimmführung im Bundesrate. Allein auch ohne dass Art. 76 
der RV. anwendbar ist, ergibt sich die Zuständigkeit des Bundesrates zur 
Entscheidung von Thronstreitigkeiten aus dem bundesstaatlichen Verhältnis 
selbst. Denn das Reich ist bei einem Streit um einen deutschen Thron un- 
mittelbar mitbeteiligt und niemand kann in einem deutschen Staate Landes- 
herr sein, der nicht als Mitglied des Bundes anerkannt ist. Diese Anerkennung 
kann nur die Gesamtheit der Staaten erteilen oder versagen; sie kann nur 
einheitlich erteilt werden ?). 
1) In dieser Auslegung des Art. 76 Abs.1 hat sich der Bundesrat sowohl 1875 in der 
Braunschweigschen als auch 1899 in der Lippeschen Thronfolgesache für zuständig erklärt. 
2) Diese Kompetenz des Bundesrates ist auch nicht an die im Art. 76 aufgestellten 
Voraussetzungen geknüpft und sie kann dem Bungesrat nicht durch ein Landesgesetz 
entzogen werden. Art. 76 der RV. ist infolge des Lippeschen Thronfolgestreits Gegen- 
stand vielfacher Erörterungen geworden. Unter ihnen sind hervorzuheben eine Reihe 
von scharfsinnigen, aber sehr tendenziösen Aufsätzen von Seydel, welche in seinen 
 
	        
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