76 Vierter Abschnitt: Die Organisation des Reiches. $ 12
zugleich seine Entlassung als Reichskanzler nimmt. Nicht wählbar sind die
Landesherren der deutschen Staaten als Träger der souveränen Reichsge-
walt und Vollmachtsgeber der Bundesratsmitglieder !).
3. Die Zahl der Mitglieder des Reichstages bestimmt sich
durch den Grundsatz, dass in jedem Bundesstaate auf je 100 000 Seelen der
Bevölkerungszahl Ein Abgeordneter gewählt wird. Indes umfasst niemals
ein Wahlkreis Gebiete verschiedener Staaten und deshalb wird in einem
Bundesstaate, dessen Bevölkerung 100 000 Seelen nicht erreicht, trotzdem
Ein Abgeordneter gewählt. Die Zahl der zu wählenden Abgeordneten ist
aber nicht von dem Resultat der periodischen Volkszählung abhängig
sondern ist gesetzlich fixiert ?). Die Gesamtzahl der Reichstagsabgeordneten
beträgt 397°).
4. „Jeder Abgeordnete wird in einem besonderen Wahlkreise ge-
wählt‘ 2). Die Wahlkreise sind räumlich abgegrenzt und tunlichst abgerun-
det 5). Die Abgrenzung der Wahlkreise hat im Wege der Reichsgesetzgebung
zu erfolgen. Für das Gebiet des ehemaligen Norddeutschen Bundes bleibt
diejenige Abgrenzung der Wahlkreise bestehen, welche bei den ersten Reichs-
tagswahlen im Norddeutschen Bunde durch Verordnungen der Landesregie-
rungen getroffen wurde, bis sie durch Reichsgesetz abgeändert wird ®). In
Bayern wurde die Abgrenzung der Wahlbezirke der Landesregierung ?), für
die übrigen süddeutschen Staaten dem Bundesrat übertragen ®). Die ur-
sprüngliche Wahlkreiseinteilung besteht, abgesehen von geringfügigen Grenz-
regulierungen noch jetzt unverändert fort. Da sich nun der Bevölkerungs-
zuwachs nicht gleichmässig auf alle Wahlkreise verteilt, so hat sich hinsicht-
lich des Wahlrechts und der Interessenvertretung anstatt der im Wahlgesetz
von 1869 und im Art. 20 der RV. vorausgesetzten Gleichheit eine grosse Un-
gleichheit entwickelt; die Bevölkerung der Städte und der Industriebezirke
ist verhältnismässig zu schwach, die ländliche Bevölkerung zu stark vertreten;
die letztere hat auf die Zusammensetzung des Reichstags einen Einfluss,
welcher erheblich grösser ist als der Zahl der Wähler entsprechen würde.
Jeder Wahlkreis wird zum Zweck der Stimmabgabe in Wahlbezirke geteilt,
1) Daher sind die Stimmzettel, welche auf den Kaiser oder einen anderen Bundes-
fürsten lauten, für ungültig zu erachten. Vgl. Stenogr. Berichte 1874—75 8. 578.
1877. Ba. III S. 517. 521. 1879. Bd. VI S. 1520. A. Ans. v. Hoffmann im Arch.
f. öffentl. R. Bd. 18 S. 247.
2) Wahlges. $5 RV. Art. 20. RG. v. 25. Juni 1873. (Els.-Lothr.) $ 3.
3) Es entfallen davon auf Preussen 236, Bayern 48, Sachsen 23, Württemberg 17,
Elsass-Lothr. 15, Baden 14, Hessen 9, Mecklenb.-Schwerin 6, Sachsen-Weimar, Olden-
burg, Braunschweig, Hamburg je 3, Meiningen, Koburg-Gotha, Anhalt je 2, auf jeden
der übrigen Staaten ein Abgeordneter.
4) Wahlges. $ 6 Abs. 1.
5) Wahlges. $ 6 Abs. 3. Die räumliche Abgeschlossenheit und Abrundung der
Wahlkreise erleidet eine Ausnahıne nur hinsichtlich der Enklaven, da kein Wahlkreis
Gebiete verschiedener Staaten umfassen darf.
6) Das Verzeichnis der Wahlkreise ist im BGBl. 1870 S. 289 ff. publiziert worden;
es ist abgeändert worden durch die Reichsgesetze v. 20. Juni 1873, 25. Dezemb. 1876
u. 18. Febr. 1906.
7) Vertrag v. 23. Nov. 1870. III. $ 2.
8) Wahlges. $ 15. Das Verzeichnis ist publiziert im RGBl. 1871. S. 35 ff. Für Els.-
Lothr. Ges. v. 25. Juni 1873. $ 6 Abs. 2. Das Verzeichnis im RGBl. 1873. S. 373.