Full text: Das öffentliche Recht der Gegenwart. Band I. Deutsches Reichsstaatsrecht. (1)

84 Vierter Abschnitt: Die Organisation des Reiches. $ 12 
  
werden, erscheinen nach Legislatur-Perioden und Sessionen und in chrono- 
logischer Reihenfolge der Sitzungen geordnet, im Buchhandel. 
IV. Die persönliche Stellung der Reichstags-Mit- 
glieder. 
1. Die RV. Art. 29 bezeichnet die Mitglieder des Reichstages als Ver- 
treter des gesamten Volkes. Eine staatsrechtliche Bedeutung aber hat diese 
Bezeichnung nicht; im juristischen Sinne sind die Reichstagsmitglieder Nie- 
mandes Vertreter; ihre Befugnisse sind ebensowenig von den Wählerschaften 
der einzelnen Wahlkreise, wie vom gesamten Deutschen Volke abgeleitete; es 
gibt keinen einzigen Punkt in der ganzen Rechtsstellung der Reichstags- 
mitglieder, der von den Rechtsgrundsätzen über Stellvertretung, Vollmacht 
oder Mandat beherrscht würde. Die rechtlichen Befugnisse und Pflichten 
der Reichstagsmitglieder leiten sich unmittelbar ausdem Gesetze ab; die 
Wahl ist lediglich der Ernennungs-Modus der Abgeordneten; ist dieser Akt 
der Berufung vollzogen, so ist jedes juristische Band zwischen dem Abge- 
ordneten und seinen Wählern durchschnitten; der Abgeordnete hat lediglich 
nach seinem eigenen pflichtgemässen Ermessen seine Tätigkeit auszuüben. 
Hieraus ergibt sich, was in Art. 29 cit. ausdrücklich hervorgehoben wird, 
dass die Reichstags-Abgeordneten an Instruktionen und Aufträge nicht ge- 
bunden sind, dass sie weder ihren Wählern noch dem Vorstande einer Partei 
Rechenschaft schuldig sind und deshalb auch nicht zur Verantwortung dar- 
über gezogen werden können !). 
2. „Kein Mitglied des Reichstages darf zu irgend einer Zeit wegen seiner 
Abstimmung oder wegen der in Ausübung seines Berufes getanen Aeusserungen 
gerichtlich oder disziplinarisch verfolgt oder sonst ausserhalb der Versammlung 
zur Verantwortung gezogen werden.“ RV. Art. 30. Strafgesetzb. $ 112). 
Auf die Zeugnispflicht erstreckt sich diese Befrei- 
ung nicht?°). Ebensowenig auf die Erhebung einer Zivilklage gegen den 
1) Ueber die Mittel und Wege zur Umgehung dieses Verfassungsgrundsatzes vgl. 
Dandurand, Le Mandat Imperatif. Paris 1896 und dazu meine Erörterung im 
Arch. f. öff. R. Bd. 12 8. 277 £f. | 
2) In neuester Zeit ist diese Frage wiederholt zum Gegenstand wissenschaftlicher 
Erörterung gemacht worden. Vgl. Schleiden, Die Disziplinar- und Strafgewalt 
parlamentar. Versammlungen über ihre Mitglieder. Berlin 1879. Heinze, Die Straf- 
losigkeit parlam. Rechtsverletzungen. Stuttgart 1879. v. Kissling, Die Unverant- 
wortlichkeit der Abgeordneten und der Schutz gegen Missbrauch derselben. Wien 1882. 
(2. Aufl. 1885). Fuld, im Gerichtssaal Bd. 35 (1883) S. 529 ff. Binding, Straf- 
recht I $ 141. Gareis, in der Zeitschrift für die ges. Strafrechtswissensch. 1887 
Ss. 633ff. Weismann, Die strafprozessuale Privilegierung gesetzgebender Ver- 
sammlungen. 1888. Vgl. auch G. Seidler, Die Immunität der Mitglieder der Ver- 
tretungskörper nach österr. Recht. 1891. E.Sontag, Der bes. Schutz der Mitglieder 
des D. Reichstages etc. gegen Strafverfolgung. 1895. Hubrich, Die parlamentar. 
Redefreiheit und Disziplin, Berlin 13899. v. Muralt, Die parlament. Immunität. 
Zürich 1902 und L. Rossi, L’Immunitä dei deputati (Archivio Giuridico Vol. 58). 
Bologna 1897. v. Bar, Gesetz u. Schuld im Strafrecht. Bd. I S. 237 ff. (1006). 
3) Vgl. Stenogr. Ber. des Reichst. 1885/86 II S. 1399 ff. Hubricha.ae. O. 
8. 371 ff. Mein Aufsatz in der DJZ. 1906 S. 954 fg. Kahlin der Nationalzeitung 
v. 16. März 1907 (Nr. 127) u. besonders Wittmaak im Archiv f. öff. R. Bd. 21 S. 
353 ff., woselbst weitere Literatur angegeben ist. Anderer Ansicht nur Müller- 
Meiningen in Hirths Annalen 1906 S. 641 ff. Er hält dieses Privileg für erforderlich, 
um die Macht des Reichstages noch mehr zu steigern, übersieht aber die große Gefähr- 
dung der Disziplin und Diensttreue der Beamten, welche mit diesem Privileg verbun- 
den sein würde.
	        
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