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Abgeordneten; denn dies ist keine ‚‚gerichtliche Verfolgung‘ !). Die ge-
schäftsordnungsmässige Disziplin innerhalb des Reichstages (Ordnungstuf)
ist ausdrücklich vorbehalten. (RV. Art. 27).
3. „Ohne Genehmigung des Reichstages kann kein Mitglied desselben
während der Sitzungsperiode ?) wegen einer mit Strafe bedrohten Handlung
zur Untersuchung gezogen oder verhaftet werden, außer wenn es bei Aus-
übung der Tat oder im Laufe des nächstfolgenden Tages ergriffen wird.“ RV.
Art. 31 Abs. 1. Auf die Festnahme eines Reichstagsmitgliedes zum Zweck
der Vollstreckung einer rechtskräftig erkannten Freiheitsstrafe findet diese
Bestimmung keine Anwendung. ‚Die gleiche Genehmigung ist bei einer Ver-
haftung eines Reichstagsmitgliedes wegen Schulden erforderlich.“ RV. Art. 31
Abs. 3 Zivilprozess-Ordn. $ 904 Ziff. 1. „Auf Verlangen des Reichstages wird
jedes Strafverfahren gegen ein Mitglied desselben und jede Untersuchungs-
oder Zivilhaft für die Dauer der Sitzungsperiode aufgehoben.“ RV. Art. 31
Abs. 3. Zivilprozess-Ordn. $ 905 Z. 1. Auf eine Strafvollstreckung bezieht sich
der Art. 31 nicht. Die Verjährung der Strafverfolgung ruht während der Zeit,
in welcher die Verfolgung nicht begonnen oder nicht fortgesetzt werden kann.
RG. v. 26. März 1893 (RGBl. S. 133). Die Genehmigung des Reichstages
ist erforderlich, wenn ein Mitglied desselben während der Sitzungsperiode und
seines Aufenthalts am Orte der Versammlung an einem anderen Orte als
Zeuge oder Sachverständiger vernommen werden soll. Strafpr.-O. $ 49. 72.
Zivilpr.O. $ 382. 402. Milit.-Strafpr.-O. $ 207. 208.
4. Wer ein Mitglied des Reichstages durch Gewalt oder durch Bedrohung
mit einer strafbaren Handlung verhindert, sich an den Ort der Versammlung
zu begeben oder zu stimmen, wird nach $ 106 des StGB. bestraft. Vgl. eben-
daselbst $ 339 Abs. 2.
5. Die Mitglieder des Reichstages sind befugt, die Berufung zum Amte
eines Schöffen oder Geschworenen oder eines Beisitzers eines Seeamtes ab-
zulehnen ?).
6. Art. 32 der RV. bestimmte, dass die Mitglieder des Reichstages als
solche keine Besoldung oder Entschädigung beziehen dürfen; durch das RG.
v. 21. Mai 1906 (RGBl. S. 467) ist aber an die Stelle dieses Artikels die Vor-
schrift gesetzt worden: „Die Mitglieder des Reichstages dürfen als solche
keine Besoldung beziehen. Sie erhalten eine Entschädigung nach
Massgabe des Gesetzes.“ Dieses Gesetz ist am gleichen Tage erlassen worden
1) Mein Staatsr. d.D.R. Bd. IS. 357 Anm. lundWittmaaka. a. O. S. 359 ff.
Anderer Ans. Hubrich S. 370. .
2) Vgl. SeydelS.4l4fg. Die dem Präsidenten des Reichstags und dem Reichs-
tag selbst nach der Geschäftsordnung zustehenden Disziplinarmittel sind sehr ungenü-
gend, insbesondere zur Verhinderung einer sogen. Obstruktion. Vgl. darüber Sei-
denberger, Der parlamentarische Anstand. Cöln 1903. Brandenburg, Die
parlament. Obstruktion (Neue Zeit- u. Streitfragen), Dresden 1904 und besonders G.
Schwarzin Grünhuts Zeitschrift Bd. 33 8. 33 ff. (Wien 1905). Ueber die Bestim-
mungen der Geschäftsordn. siehe Perels S. 98 fg. Auf Grund eines Beschlusses:
v. 16. Febr. 1905 kann im Falle gröblicher Verletzung der Ordnung das Mitglied durch
den Präsidenten von der Sitzung ausgeschlossen werden.
3) Auch während der Vertagungsfrist währt die ‚„Sitzungsperiode‘ fort.
s 4) Gerichtsverf.-Ges. $ 35 Ziff. 1. $ 85 Abs. 2. Ges. v. 27. Juli 1877 810 (RGBl.
3. 551.)